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D I E KOD I F I KAT I ON UND D I E J UR I S TEN E I N R E CH T S H I S TOR I S CH E S S E M I NA R I N S TOC KHO L M 2. B I S 4. MA I 2 0 0 3

GRUNDAT AV GUSTAV OCH CARIN OLIN The Olin Foundation for Legal History INSTITUTET FÖR RÄTTSHI STORI SK FORSKNING s toc k hol m 2 0 0 8

re dakt i on :Claes Peterson umschlagge staltung & g raph i sche form:Pablo Sandoval umschlagabb i ldung :Illustration aus einer Prachtausgabe des schwedischen Gesetzbuches von 1734, Königliche Bibliothek, Stockholm typog raph i e :Bembo druck & e i nb i nde n :Tallinna Raamatutrükikoda,Tallinn, Estland i sbn 91-85190-79-9 i s sn 0534-2724 Die Medaille, die den schwedischen Jurist Johan Stiernhöök (1596-1675) abbildet, wurde 1837 von der Königlichen Schwedischen Akademie geprägt. Die Gravierung ist von C.O. Mellgren gemacht.

RÄTT SH I S TOR I SKA S TUD I ER d i s t r i bue ra s av r önne l l s ant i k var i at ab band 23

okko b e hre nds e l i sab eth b e rge r wi lhe lm braune de r paolo cap pe l l i n i mar j u lut s r i chard nordqu i st clae s pete r son mar i e sandström

D I E KOD I F I KAT I ON UND D I E J UR I S TEN E I N R E CH T S H I S TOR I S CH E S S E M I NA R I N S TOC KHO L M 2. B I S 4. MA I 2 0 0 3

d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 9 Seminar in Stockholm mit dem Thema “Die Kodifikation und die Juristen”. Zweck des Seminars war es, in einem begrenzten Kreis von Rechtshistorikern zu untersuchen und zu diskutieren, wie dasVorhandensein einer Kodifikation die Rechtsquellenlehre prägt. Welche Bedeutung kommt Rechtsquellen wie Praxis, Rechtswissenschaft und Gewohnheitsrecht in Rechtsbildung und Rechtsanwendung zu, wenn das Recht vollständig kodifiziert ist? Und hat sich das Zusammenspiel der Rechtsquellen in Rechtsordnungen ohne Kodifikation, wie z. B. in den nordischen Ländern, anders entwickelt? An dem Seminar nahmen Forscher aus Estland, Deutschland, Italien, Spanien, Österreich und Schweden teil. Die Zusammenkunft erbrachte einen intensiven und engagierten Austausch von Gedanken und Ideen, der zu weiteren Diskussionen angeregt hat. Ich möchte denTeilnehmern aufrichtig für den sehr interessanten Meinungsaustausch danken. Die einzelnen Beiträge stehen auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau, und es ist mir eine große Freude, die Texte in diesem Band gedruckt vorlegen zu können. Die Veröffentlichung macht sie einem größeren Kreis von Lesern zugänglich. MA I 2003 organisierte die Olin-Stiftung für rechtshistorische Forschung (Institutet för rättshistorisk forskning) ein rechtswissenschaftliches Vorwort Stockholm, im Juli 2008 Cla e s Pe t e r s on IM

d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 11 Di e europä i sche Pr ivatrecht skod i f i kat i on und d i e Ge f ährdung i hre r Systemmi t te Einführung in die Fragestellung Die Kodifikation als Rechtsorganismus (corpus iuris) personaler Freiheit und die geistigenVorbedingungen dieser Auffassung Die Gefährdung der individuellen Person durch den wirtschaftlichen Funktionsträger in der letzten Kodifikationsschicht des deutschen BGB De r trans f e r e i ne r kod i f i kat i on : Öste rre i chs ABGB i n L i echte nste i n Öste rrre i chs abgb : Vom z e ntrum an de n rand de r Pr ivatrecht s ordnung ? Der Charakter des abgb Chronologie der wichtigsten Nebengesetze Das äußerliche Erscheinungsbild des Bürgerlichen Rechts: abgb und Nebengesetze Das Verhältnis der Nebengesetze zumabgb a) Ergänzungen b) Schaffung von Ausnahmefällen c) Derogation durch Herausnahme einer Materie Gründe für Nebengesetze a) Personell-ständisches Sonderrecht b) Veränderliches Recht c) Ersatz einer abgb-Reformersatz d) Sachliche Abweichung vomabgb e) Politisch veranlaßte Regelungen I II I II III IV V 15 15 19 54 63 81 81 84 87 89 89 90 92 93 93 93 95 96 98 Inhalt Okko Behrends Elisabeth Berger Wilhelm Brauneder

VI VII VIII I II III IV I II III IV i n h a l t 12 f) Rechtstechnische Gründe Wirkungen der Nebengesetze a) MöglicheWirkungen b) TatsächlicheWirkungen c) Gemeinsame Systematik für abgb und Nebengesetze d) Neuer Rechtsgedanke kraft Nebengesetz Kodifikationsgedanke und Nebengesetze “Peripherie” des abgb durch Nebengesetze? L’Âme de Napol éon. Code c iv i l , Säkular i s i e rung, Pol i t i sche Form Di e neue e stn i sche Pr ivatrecht skod i f i kat i on zwi sche n Ge sch i chte und Zukunf t von Europa Vorwärts in das Mittelalter? Man bleibe Este, aber werde auch Europäer! Deutschland als pars pro toto für Europa oder historischer big brother der Rechtsordnung in Estland? Europäische Zukunft in der gesetzgeberischen Gegenwart von Estland De r Code Civ i l und d i e j ur i st i sche Methode nle hre Die legitimierenden Elemente der Kodifikationsmethode Savignys Gegenposition Die Methodologie des Code Civil verglichen mit dem schwedischen Rechtsquellenbegriff 3.1 Das Vorwort des Portalis 3.2 3.3 Der französische Rechtsquellenbegriff 4.1 Praxis 99 99 99 101 102 103 106 107 107 108 109 110 110 112 115 133 133 139 141 149 157 159 164 170 171 174 177 183 184 Paolo Cappellini Marju Luts Richard Nordqvist Die Spaltung zwischen Rechtsbildung und Rechtsanwendung im Code Civil Der schwedische Rechtsquellenbegriff des 19. Jahrhunderts 1) Nebengesetze mit und ohne abgb -“Auftrag” 2) Neues Teilgebiet des Privatrechts 3) Voraufgehendes Nebengesetz 4) Kodifikationsübergreifende Rechtsvereinheitlichung 5) Komplettregelung 6) Vermeidung einer abgb-Überfrachtung?

V I II III d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 13 4.2 Sitte 4.3 Doktrin 4.4 Rechtsquellenkrise und Kodifikationsdebatte Schlussfolgerungen De r Kamp f um e i n schwe d i sche s Ziv i lge ste zbuch im 19. J h . E i n schwe d i sche r Kod i f i kat i ons stre i t ? Das Gesetzeskomitee aus dem Jahre 1811 Der deutsche Kodifikationsstreit 1 Thibauts Kodifikationsvorschlag 2 Savignys Kritik Die schwedische Juristen und der Entwurf des Zivilgesetzbuches Epilog “Was wi r thun sol le n wo ke i ne Ge setzbüche r s i nd”: Zur Be deutung de s Ni chtvorhande nse i ns Die Bedeutung der Nichtexistenz Gesetzgeber, bleib’ bei deinen Leisten! Die Rechtswissenschaft – ein lebendiges Gewohnheitsrecht Das schwedische Modell 193 199 202 206 209 214 217 218 221 225 234 237 241 243 252 261 267 Claes Peterson Marie Sandström Verfasser

D I E KOD I F I KAT ION UND D I E J URI STEN Ein rechtshistorisches Seminar in Stockholm 2. bis 4. maj 2003 d

d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 15 gebiet in ein systematisch geregeltes, von einem einheitlichen Geist geprägtes und einheitlichen Auslegungsregeln unterworfenes Gesetzbuch von rechtwissenschaftlichem Rang. Dies ist möglich, weil für eine Kodifikation das Zusammenwirken von Rechtswissenschaft und Gesetzgebung kennzeichnend ist. Die Rechtswissenschaft leistet in diesemVerhältnis die geistigeVorarbeit und die anschließende Betreuung. Es ist ihr Verdienst, daß der Stoff des jeweiligen Gebiets geistig so durchdrungen ist, daß er zum Gegenstand eines einzigen systematisch gegliederten Gesetzbuches werden kann; es ist dann auch ihre Aufgabe, daß die geistige Kohärenz erhalten bleibt. Es ist dabei eine eigene Frage, der wir einige Aufmerksamkeit widmen werden, was den Stoff einer Rechtswissenschaft dazu befähigt, sich in dieser Weise und mit solch systematisch befriedigendem Ergebnis geistig durchdringen zu lassen. Der Beitrag des Gesetzgebers zur Entstehung von Kodifikationen besteht in der positiven Fixierung des erreichten Standes und der damit einhergehenden und insbesondere in der ersten Geltungsphase wirksamen Eindämmung der Kontroversen auf die von der Kodifikation offengelassenen Fragen. Es ist von daher Die europäische Privatrechtskodifikation und die Gefährdung ihrer Systemmitte okko b e hre nds Oder die Zurückdrängung des selbständigen Bürgers durch den staatlich geschützten und kontrollierten Funktionsträger e inführung in di e frage ste llung Di e modernen Kodifikationen verwandeln ein Rechts-

offenkundig, daß die rechtswissenschaftlichen Begriffe und Prinzipien, welche auf diese Weise die Kodifikation tragen und als Inhalt eines Gesetzes zusätzliche Geltung erlangt haben, für ihre Anwendung und Weiterentwicklung ein ihrer Natur entsprechendes methodischesVerständnis und damit den rechtswissenschaftlich ausgebildeten Juristen verlangen. Der insofern zur Kodifikation gehörende rechtswissenschaftlich ausgebildete Jurist ist aber heute keineswegs auf den Universitätslehrer beschränkt, sondern hat im Gegenteil in der Moderne einen immer deutlicher sich herausbildenden Schwerpunkt bei dem an den Universitäten ausgebildeten und mit der von ihr ausgehenden wissenschaftlichen Literatur in dauerndem Kontakt bleibenden Richter. Der außerordentliche Gewinn an Stoffkonzentration, Übersichtlichkeit, Klarheit und Kontroversenfreiheit, der durch die modernen Gesetzbücher erreicht worden ist, hat bewirkt, daß die Gerichte sich von der früher bestehenden Abhängigkeit von den Juristenfakultäten befreien konnten. Der Wegfall der im19. Jahrhundert noch nicht ganz seltenen Versendung der Gerichtsakten an die Juristenfakultäten ist dafür ein Symptom. Die Richter sind heute selbst Akteure der Rechtswissenschaft, die sich selbständig über den Meinungsstand unterrichten und ihn durch ihre Urteile nicht selten weiterführen. Das Bündnis zwischen Gesetzgebung und Dogmatik, zwischen legislatorischer Staatsgewalt und Rechtswissenschaft, das der Kodifikation zugrundeliegt1, besteht daher zwischen staatlicher Gesetzgebung und einer Rechtswissenschaft, die, ohne darum gespalten zu sein, sich in eine akademische und eine forensische Rechtswissenschaft gliedert. Der einheitliche wissenschaftliche Geist des Gesetzbuches, der im Zentrum dieses Beitrags steht, ist von Anfang an ein Signum der Kodifikation. Savigny, der dasWort Kodifikation noch nicht o k k o b e h r e n d s 16 1 Vgl. dazu meinen Beitrag: Das Bündnis zwischen Dogmatik und Gesetzgebung, in: Okko Behrends /Wolfram Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik (1989) S. 936.

benutzt, hat ihn besonders klar ausgesprochen und die Folgerungen für die systematische Auslegung daraus gezogen2. Aber er ist, wie noch zu zeigen sein wird, viel älter. Gerade nun dieser einheitliche Geist, der die Kodifikationen auszeichnet und sie zu klaren und leicht handhabbaren Gesetzbüchern erhebt, bedeutet aber zugleich eine Gefahr. Er besteht darin, daß dieser Geist für die politische Macht verfügbar wird. Es ist gerade die geistige Mitte, von der eine Kodifikation beherrscht wird und die sie belebt, die sie auch gefährden kann. Sie kann verstanden, mißbilligt, angegriffen und uminterpretiert werden. Weil die Kodifikation deutlich macht, daß sie einem geistigen Prinzip folgt, gibt es die Möglichkeit, sie von ihrem zentralen Punkt her umzugestalten. Das ist immer wieder geschehen, durch die Politik und durch die Wissenschaft.3 Ein nicht kodifiziertes, einer selbständigen Juristenprofession anvertrautes Recht, das von einem einheitlichen geistigen Prinzip nichts weiß, ist gegenüber dieser Gefahr geschützt. Cokes berühmte Bemerkung gegenüber dem englischen König, die darauf hinauslief, daß im Recht nur der eine Stimme habe, der es zu seinem Lebensberuf gemacht habe, und die Berufung auf die bloßeVernunft nicht ausreiche, machte diesen ärgerlich, ließ d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 17 2 In seiner Kritik am französischen Code civil, wie er sie in seiner Schrift “Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft” (1814) vorträgt. Es sei auffallend, daß (S. 74) “Eine Art der Ergänzung gar nicht vorkommt, die organische nämlich, welche von einem gegebenen Punkt (also von einem Grundsatz des Gesetzbuchs) mit wissenschaftlicher Sicherheit auf einen nicht gegebenen schließt.”DiesesVerfahren, daß Savigny mit dem allgemeinenWort Analogie bezeichnet und das heute als Gesetzesanalogie bezeichnet wird, setzte (S. 75) “in dem Gesetzbuch selbst eine organische Einheit voraus.An eine solche ist aber hier auch nicht entfernt zu denken”. Daher bliebe in Frankreich nur eine “Ergänzung von außen”, vom Naturrecht, vom bisherigen Recht und von der – nicht in das Gesetzbuch integrierten – wissenschaftlichen Theorie. 3 Vgl. am Beispiel der schwierigen Geschichte des BGB meinen Beitrag: Das Privatrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, seine Kodifikationsgeschichte, sein Verhältnis zu den Grundrechten und seine Grundlagen im klassisch-republikanischen Verfassungsdenken, in: Okko Behrends/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), 9. Symposion der Kommission “Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart” (2000), S. 9-82.

ihn aber waffenlos, da das damalige unübersichtliche und in keinerWeise kodifikationsfähige Common Law Coke in unwidersprechlicher Weise Recht gab.4 Es gibt Indizien, daß wir in einer Zeit leben, in der eine solche feindliche Übernahme der Privatrechtskodifikationen wieder einmal droht, jedenfalls im Fall des BGB und zumindest ansatzund teilweise, aber an prominenter Stelle. Der Gesetzgeber scheint sich zur Zeit von dem Gesellschaftsmodell des selbständigen, grundsätzlich eigenverantwortlichen Menschen zu lösen und an seine Stelle die soziale Funktion zu setzen, die das Individuum auflöst und in welcher der Mensch, je nachdem, in welcher er auftritt, zu schützen oder zu kontrollieren ist.Während auch der soziale Rechtsstaat des deutschen Grundgesetzes die menschliche Person zur Eigenveranwortlichkeit führen und sie in ihr tunlichst sichern und respektieren will und daher die Rechtsordnung in einer Weise konzipiert, daß die Menschen die Regeln und Prinzipien des Zusammenlebens als Außenbindung und Beschränkung eines ihnen gewährleisteten und der eigenen Verantwortung überlassenen Freiraums erleben können, ist im Augenblick eine Ansicht im Vordringen, die den Menschen nicht mehr als ungeteilte und geschlossene Person wahrnimmt, d. h. als Individuum, sondern in seine sozial wichtigsten Leistungen zerlegt, insbesondere in die des Produzenten (Unternehmers) und Konsumenten (Verbrauchers), und daran o k k o b e h r e n d s 18 4 Vgl. Roscoe Pound, The Development of Constitutional Guarantees of Liberty (1957) S. 163. Der König hatte gesagt, das Recht sei auf Vernunft gegründet, und er und andere hätten dochVernunft ebenso wie die Richter. Darauf Coke:“Seine Majestät ist aber nicht in den Gesetzen seiner Königreichs von England ausgebildet, und Angelegenheiten, die das Leben, das Erbe, die Güter und Vermögen seiner Untertanen betreffen, sind nicht nach natürlicher Vernunft, sondern nach der künstlichen Vernunft und dem Urteil des Rechtes zu entscheiden; das Recht ist eine Kunst, die langes Studium und Erfahrung erfordert, bevor ein Mensch seine Kenntnis erwirbt.”Der König fand diese Behauptung hochverräterisch, weil sie ihn unter das Recht stelle. Dem begegnete Coke mit einem Zitat aus Bractons De Legibus et consuetudines Angliae (1240): quod Rex non debet esse sub homine, sed sub Deo et lege. Ich verdanke den Hinweis auf diese Episode dem wertvollen Buch von Helmut Rittstieg, Eigentum alsVerfassungsproblem. Zur Geschichte und Gegenwart des bürgerlichenVerfassungsstaates (1976) S. 45.

eine Fülle von Reglementierungen knüpft. DerVorgang ist dadurch mit der Kodifikationsidee verknüpft, weil er sich in plakativer Weise im Personenrecht des BGB niederschlägt. Im folgenden möchte ich das damit aufgeworfene Thema so behandeln, daß ich zuerst im Teil I eine Skizze des langen Weges gebe, auf dem die Kodifikation den Sinn eines von einem einheitlichen Geist erfüllten Gesetzbuches erlangt hat. Sie wird sichtbar machen, welche produktiven,“poetischen” Kräfte daran beteiligt waren, den geistigen tätigen Menschen in das Zentrum des Rechtsbildes zu setzen und damit auch die kritischen Maßstäbe dafür liefern, die in einem kürzerenTeil II den sich zur Zeit abzeichnenden Funktionalismus am Beispiel des BGB zu bewerten erlauben. Der übliche, aus der Antike stammende Name Kodifikation weist lediglich auf eine Äußerlichkeit hin, auf die Herstellung eines Codex. Eine Kodifikation ist danach im Recht ein Buch, zwischen dessen beiden Buchdeckeln sich geltendes Recht in Form von Gesetzen befindet. In diesem Sinne spricht Isidor von Sevilla von codicem facere, wenn er den Codex Theodosianus als nach dem Muster der privaten Gesetzessammlungen des Codex Hermogenianus und Gregorianus angelegt bezeichnet.5 Das Neue des CodexTheodosianus, daß eine Gesetzessammlung ihrerseits als ganze Gesetzeskraft erhält, wird vom Codex Justinianus aufgenommen. In dieser kaiserlichen Tradition steht auch der französische Code civil, der ursprünglich als Code Napoléon in Kraft trat. Allerdings lehnt sich dieser, bezogen auf das Corpus Iuris d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 19 di e kodi f ikat ion als rechtsorgani smus (corpus iuris) pe r sonale r fre ihe i t und di e ge i st igen vorbedingungen di e se r auf fas sung 5 Isidor, Etym. 5,1Theodosius minor Augustus ad similitudinem Gregoriani et Hermongeniani codicem factum constitutionum a Constanti temporibus sub proprio cuiusque imperatoris titulo disposuit, quem a suo nomine Theodosianum vocavit. TEIL I

Civilis, nicht an den Codex Justinianus an, sondern, wie Savigny bereits klar ausgesprochen hat, an dessen systematisches Herzstück, das mit Gesetzeskraft ausgestattete Lehrbuch der Institutionen Justinians.6 Im berühmten Kodifikationsstreit zwischen Thibaut und Savigny wird das Wort Kodifikation selbst noch nicht verwendet. Es scheint sich erst durch Benthams vergebliche Propaganda für eine Gesetzgebung im Bereich des Common Law durchgesetzt zu haben.7 Der Sache nach ist der Begriff aber längst vorhanden, wie Savignys Rede von der von einem Gesetzbuch zu fordernden, analogische Fortentwicklung erlaubenden, organischen Einheit deutlich zeigte. In der antiken lateinischen Sprache kommt der Ausdruck “corpus iuris” dem modernen Kodifikationsbegriff am nächsten. Das ist überraschend, da dieser Ausdruck in seiner Anwendung auf die justinianische Kodifikation einen Sinn erhalten hat, der nicht gerade die innere systematische Kohärenz betont. Wer heute vomCorpus Iuris Civilis spricht, assoziiert entweder die Gesamtausgabe des Dionysios Gothofredus, die alleTeil des Corpus Iuris in einem einzigen Buch zusammengezwungen hat, oder die vier Teile des Gesamtwerks, Institutionen, Pandekten, Codex und Novellen, ohne an ihnen in besonderen Maße die Einheit zu empfinden, die Justinian empfand, und zwar einschließlich der o k k o b e h r e n d s 20 6 Vom Beruf (oben Anm. 2) S. 65. Man werde “häufig finden, daß wichtige Gegenstände blos deswegen fehlen, weil sie auch gar nicht oder nur beyläufig in Justinians Institutionen vorkommen, die ja vielen neueren Systemen oft unbe/66/merkt zum Grunde liegen”. Noch deutlicher sagt Savigny vom östereichischen AGBG (97):“In der ganzen Form und Anlage ist dasWerk einem etwas ausführlichen Institutionencompendium sehr ähnlich.” Vgl. auch die folgende Anmerkung. Grundlegend zur Bedeutung der nationalsprachlichen Institutionenlehrbücher für die Vorbereitung der nationalstaatlichen Kodifikationen Klaus Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im17. und 18. Jahrhundert, in: Ius commune 3 (1970), S. 64 ff.; siehe zu dem Thema auch meinen Beitrag: Die Institutionen Justinians als Lehrbuch, Gesetz und Ausdruck klassischen Rechtsdenkens, in: Behrends/Knütel/Kupisch/ Seiler, Corpus Iuris Civilis, Bd. I Institutionen (1997), S. 279-288. 7 Vgl. nur Titel wie ‘Codification Proposal. Adressed by Jeremy Bentham to All Nations Professing Liberal Opinions (1822); Leadings Principles of a Constitutional Code for Any State (1823); Justice and Codification Petitions (1829).

Novellen, die er zwar nicht mehr selber gesammelt, aber von vornherein für notwendig gehalten und in großer Zahl erlassen hatte.8 Wenn man genau hinsieht, bilden seine vier Elemente, das in den Institutionen repräsentierte Lehrbuch, die in den Pandekten dargebotene Wissenschaft, die im Codex gesammelte und in den Novellen fortgeführte Gesetzgebung schon äußerlich-funktionell eine organische Einheit, da jedes entwickelte Recht gelehrt, wissenschaftlich bearbeitet und fortdauernd gesetzlich geregelt werden muß. Eine von Savigny zitierte zeitgenössische Stimme aus Frankreich konnte daher den Code civil mit einem ergänzungsbedürftigen, ohne Pandekten und Codex daherkommenden Institutionenwerk vergleichen.9 Justinian selbst verwendet den Ausdruck Corpus iuris in Aufnahme einer bis in die vorklassische Zwölftafelinterpretation zurückreichenden Redeweise in einem die potentielle prinzipielle Einheit des Rechts betonenden Sinn. Er verwendet ihn in einer “urbi et orbi” verkündeten Konstitution zu Beginn der Kodifikationsarbeiten in den ersten Worten eines diese vorbereitenden Reformgesetzes, um den Rang der – das Recht der Mitgiftrückforderung – betreffenden Neuregelung zu betonen. d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 21 8 Vgl. constitutio Cordi, in der Justinian sich selber äußert. Nachdem er die Novellen, die nach ersten Ausgabe des Codex erschienen seien, in dessen zweite Auflage habe vereinigen lassen (§§ 2, 3), würden die künftigen Novellen, mit denen gewiß zu rechnen sei, in einer anderen Sammlung (in aliam congregationem) versammelt werden (§ 6). 9 Savigny referiert (p. 80 f.) ein Urteil des Tribunals von Montpellier, in dem es zum Verhältnis des Gesetzbuches zu den durch dasselbe nicht hinreichend orientierten Gerichte heißt, ein unvollständiges Gesetzessystem (un systême incomplet de legislation) erhalte zur Ergänzung einen mangelhaften, weil vonWillkür bedrohten Gerichtsgebrauch (une jurisprudence défectueuse).Abhilfe könne aus dem Blickwinkel des Gerichts nur auf zwei Weisen geschaffen werden. Man könne den Code blos betrachten als Institutionen und ihm ein zweyte, ausführlicheresWerk beygeben, was den Zweck von Justinians Pandekten und Codex hätte oder man könne als Regel das bisherige, verschiedene Recht bestehen lassen, und bloß in einzelnen bestimmten Stücken neues und gleichförmiges Recht in ganz Frankreich einführen, das heißt also, kein Gesetzbuch machen. Das Gericht favorisierte damals ganz in Savignys Sinn den zweitenWeg. CJ 5,13,1 pr [530] Imp. Iustinianus A. ad populum urbis Constantinopolitanae et universos provinciales

Justinian war sich wahrscheinlich auch bewußt, daß dieVorstellung, es gebe so etwas wie ein corpus iuris, einen in ein Gesetz überführbaren “lebendigen Leib oder Organismus des Rechts”, in der römischenTradition mit den Zwölftafeln verbunden war. Denn der Kaiser nennt die Zwölftafeln ausdrücklich alsVorbild seiner Kodifikation.10 Und angesichts einer anderen in der Einleitungskonstitution der Institutionen auffallenden Entlehnung aus Livius11 wird man auch annehmen dürfen, daß dem Kaiser die folgende Stelle aus Livius unmittelbar bekannt war. o k k o b e h r e n d s 22 L IVIUS, ab urbe condita III 34,6 [anno 451 a.C. ] centuriatis comitiis decem tabularum leges perlatae sunt, qui nunc quoque, in hoc immenso aliarum super alias acervatarum legum cumulo, fons omni publici privatique est iuris.Volgatur deinde rumor duas deesse tabulas quibus adiectis absolvi posse velut corpus omnis Romani iuris. Ea expectatio, cum dies comitiorum adpropinquaret, desiderium decemviros iterum creandi fecit. (Von den Centuriatscomitien sind auf zehn Tafeln Gesetze in Kraft gesetzt worden, die auch jetzt noch, in diesem ungeheueren Haufen übereinander getürmter Gesetze, die Quelle allen öffentlichen und privaten Rechts bilden. - Es verbreitete sich danach das Gerücht, es fehlten zwei Tafeln, durch deren Hinzufügung gewissermaßen der gesamte Organismus des römischen Rechts vollendet werden könne. Diese Hoffnung erzeugte, als sich der Tag der Magistratswahlen näherte, den Wunsch, erneut Dezemvirn [für die Niederschrift von Gesetzen] zu wählen.) 10 Inst. Just. 3, 2, 3a und insbesondere 3b. Nos vero legem duodecim tabularum sequentes. (Wir aber, die wir dem Gesetz der Zwölftafeln folgen). Zu dem interessanten Kontext der Stelle und zur Einordnung der media iurisprudentia, der zwischen Zwölftafelgesetz und Kaisergesetzgebung stehenden produktiven Jurisprudenz durch Kaiser, vgl. meine oben Anm. 6 zitierte Abhandlung S. 284-286. 11 In der constitutio “Imperatoriam” § 2 heißt es von der Vollendung der Pandekten: opus desperatum quasi per medium profundum euntes caelesti favore iam adimplevimus (die Aufgabe, an der man verzweifeln konnte, haben wir, gewissermaßen mitten durch eine abgründige Meerestiefe hindurchschreitend, mit himmlischer Hilfe erfüllt).Verwendet ist hier das mächtige Bild von Livius 31, 1, 5, der in seiner Darstellung bis zum Ende des zweiten punischen Kriegs gelangend angesichts der wachsenden Stoffülle (die Rem in praesenti non minimam adgredimur, sed in omni paene corpore iuris effusam. (Wir behandeln mit der gegenwärtigen Regelung keine geringe Rechtsmaterie, sondern eine, die nahezu den gesamten Rechtsorganismus durchdringt.)

Was hinter der Vorstellung eines Rechtsorganismus steht und wie es zu der Auffassung kommen konnte, daß die Zwölftafeln und überhaupt ein Gesetz den gesamten Organismus des römischen Rechts erfaßt, läßt sich recht genau erklären. Das Recht ist hier als Organismus gedacht, weil es in vorklassischer Tradition als das soziale normative System aufgefaßt ist, bei dessen Beachtung und Durchsetzung das Volk selbst nach Analogie eines Leibes so zusammenwirkt, daß alle Menschen, die es bilden, ihrer Natur nach leben können, aber, da diese Natur durch das Recht von vernünftigen Prinzipien erfaßt wird, etwas bilden, was seinerseits einem corpus im weiteren Sinne, einem durch das Recht zusammenhängenden corpus entspricht. In diesem Sinne unterscheidet Seneca, epistulae morales 102,5 in einer Körperlehre, die über die vorklassische Tradition auch in den Digesten bezeugt ist12, zwischen dem einzelnen Menschen, der als zusammenhängender Körper (continuum corpus) von d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 23 63 Jahre vomAusbruch des 1. punischen Kriegs hätten etwa gleich viel Bände beansprucht wie die 487 Jahre von der Gründung der Stadt bis zur Kriegserklärung) ausruft: iam provideo animo, velut qui proximis litori vadis inducti mare pedibus ingrediuntur, quidquid progredior, in vastiorem me altitudinem ac velut profundum inveni, et crescere paene opus, quod prima quaeque perficiendo minui videbatur (schon sehe ich im Geiste voraus, daß ich mich, gewissermaßen gleich Menschen, die, in die Untiefen nahe des Ufers geführt, weiter zu Fuß in das Meer hineinschreiten, in dem Maße, in dem ich vorankomme, in größerer Tiefe und gleichsam einem Abgrund befinde, und daß die Aufgabe, die zuerst durch dieVollendung der einzelnenTeile geringer zu werden begann, fast zu wachsen scheint.) Der Hinweis auf die Parallele findet sich bereits in der neuen Institutionenübersetzung (vgl. oben Anm. 6) p. XIV Anm. 2. Das Wort ‘opus’ ist in beiden Stellen wie in der klassischen locatio conductio operis im Sinne des zu vollendendenWerkes, d. h. der genau beschriebene Aufgabe, verwendet. 12 Vgl. einerseits Paulus 30 ad Sabinum D41, 1, 30, in der in einer gewiß auf Sabinus zurückgehenden Darstellung in einer Dreiteilung unter anderem der Mensch als corpus quod continetur uno spiritu demVolk als corpus quod ex distantibus (d.h. aus corpora plura uni nomini subiecta) constat entgegengestellt wird, andererseits Paulus 21 ad edictum D6, 1, 23, 5 in einer vom Mitgründer der sabinianischen Rechtsschule Cassius abhängigen Darstellung: in his corporibus quae ex distantibus corporibus essent, constat singulas partes retinere suam propriam speciem, ut singuli homines .... quod non idem in cohaerentibus corporibus eveniret: nam si statuae meae bracchium alienae statuae addideris, non posse dici bracchium tuum esse, quia tota statua uno spiritu continetur. Daß dies Casssius’ Lehre ist, bestätigt der voraufgehende Text, wo der Eigentumserwerb an dem durch ferruminatio angearbeiteten Arm von diesem Juristen durch das Wirken einer spirituellen Kraft der Einheit und dadurch auch als durch Abtrennung unumkehrbar dargelegt wird (unitate maioris partis consumi [sc. braccchium statuae ferruminatione adiunctum]

einem Geist, dem Hegenomikon, beherrscht wird (uno spiritu continetur et regitur), und demcorpus ex distantibus, für das er unter anderem dasVolk eines Gemeinwesesen nennt.Von dessen Bürgern heißt es, sie hängen kraft Recht und Pflicht zusammen, von Natur aus sind sie getrennt (iure aut officio (sc. ista corpora) cohaerent, natura diducti et singuli sunt).Da dieWirkung dieser Rechtsprinzipien selber nach der hier vorliegenden stoischen Lehre notwendig körperlich ist – es gilt der Satz: nihil in mundo agi nisi corpore13-, erzeugen die als stoffliche Energien gedachten Kräfte des Rechts inWirkung auf die Menschen und ihrVerhalten die soziale Kohäsion, die das Zusammenleben organisch, d.h. in einer sowohl für die Glieder als auch für das Ganze zweckmäßigen Weise gestaltet. Was Seneca von der inneren Verbindung der Bürger sagt, wiederholt mit anderen Worten in etwa das Gleiche, was Cicero in seiner Staatsschrift De re publica Scipio Africanus in einer berühmten Definition von Repulik und Volk sagen läßt.14 o k k o b e h r e n d s 24 et quod semel alienum factum sit, etiamsi inde abruptum sit, ad priorem dominum redire non posse). Die Proculianer lehrten das Gegenteil. Ihnen zufolge, kam im Fall von Arm und Statue bei Trennung das alte Eigentum wieder zumVorschein (vgl. Paulus 14 ad Sabinum D44,1,1,26 pr mit Zurückführung der Ansicht des Proculus auf Servius); bei gleichgewichtigen, durch ferruminatio verbundenen Teilen blieb nach ihrer Ansicht das Eigentum - entgegen Cassius, der Gemeinschaftseigentum nach Wertquoten entstehen sah - an den durch die Schweißnaht körperlich getrenntenTeilstücken bestehen (Pomponius 30 ad Sabinum D41,1,27, 2, eine Lösung, die nicht zufällig dem zuerst von Servius Sulpicius vertretenen körperlichen, durch eine teilende linea [vgl. Paul 16 ad Sabinum D41, 1, 29] definiertenTeileigentum [Paulus 21 ad edictum D50, 16, 25,1]) entspricht 13 Vgl. zu diesem ebenso spirituellen wie dynamischen oder energetischen Materialismus von Arnim, StoicorumVeterum Fragmenta I 40, 14 (Augustinus contra Acad. III 17,38): nec quidquam esse praeter hunc sensibilem mundum, nihilque in eo agi nisi corpore; nam et deum ipsum ignem putabat (sc. Zeno) (es gebe nichts außer dieser sinnlich erfahrbarenWelt und nichts werde in ihr bewirkt außer durch einen Körper; denn auch Gott selbst hielt Zeno für Feuer.). 14 Cicero, de Republica I 25, 39‘Est igitur’, inquit AFRICANUS, ‘res publica res populi, populus autem, non hominum coetus quoque modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus. (Es ist also nun, sagt Scipio, die Republik das Vermögen des Volkes, das Volk aber ist nicht eine auf beliebige Weise zusammengekommene Vereinigung von Menschen, sondern die Vereinigung einer Menge, die durch übereinstimmende Rechtsgesinnung und Gemeinschaft der Güter vergesellschaftet ist.) Dem im Text erörterten Doppelausdruck Senecas “iure et officio” entspricht die

Den anschaulichsten Ausdruck hat die sich hier manifestierende organologische Betrachtungsweise eines Gemeinwesens in der Überlieferung in der Geschichte des Menenius Agrippa, die dieser nach der Legende mit so großem Erfolg den vom Gemeinwesen sezedierten Plebejern erzählt haben soll. d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 25 Doppelung “iuris consensus et utilitatis communione” Ciceros. Das erste Glied dürfte jeweils für die Willensstrukturen des Rechts stehen, welche die territoriale civitas selbst und die strikten Privatrechte ermöglichte, das zweite Glied für die durch das insofern als sozialpflichtig gedachte Zusammenleben bewegten Güter.Vgl. Cicero, de officiis I 7, 22; de re publica I 4, 8 und unten Anm. 16. L IVIUS II 32, 9 tempore quo in homine non ut nunc omnia in unum consentiant, sed singulis membris suum cuique consilium, suus sermo fuerit, indignatas reliquas partes sua cura, suo labore ac ministerio ventri omnia quaeri, ventrem in medio quietum nihil aliud quam datis voluptatibus frui; conspirasse inde ne manus ad os cibum ferret, nec os acciperet datum, nec dentes quae acciperent conficerent. hac ira, dum ventrem fame domare vellent, ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem venisse. inde apparuisse ventris quoque haud segne ministerium esse, nec magis ali quam alere eum, reddentem in omnes corporis partes hunc quo vivimus vigemusque, divisum pariter in venas maturum confecto cibo sanguinem. Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esse irae plebis in patres, flexisse mentes hominum. (Zu einer Zeit, in der im Menschen nicht wie jetzt alleTeile zusammenstimmten, sondern ein jedes einzelne Körperglied einen eigenen Sinn und eine eigene Sprache hatte, hätten sich die übrigen Teile des Körpers darüber entrüstet, daß ihr mühevoller und arbeitsreicher Dienst alles dem Magen verschaffe, der Magen aber selbst ruhig in der Mitte nichts anderes täte als die ihm gewährten Freuden zu genießen; sie hätten sich daher verschworen, daß die Hand nicht mehr die Speise zum Mund führen, daß der Mund das Angebotene nicht mehr annehmen und die Zähne nicht mehr zerkauen würden, was sie empfingen. Durch diesen Zornausbruch sei, während sie den Magen durch Hunger zähmen wollten, jedes einzelne Glied und der ganze Körper einer extremen Auszehrung verfallen. Dadurch sei deutlich geworden, daß auch der Magen in seinem Dienst keineswegs träge sei und nicht mehr Nahrung empfange als gewähre, wenn er allen Körperteilen das, wovon wir leben und kräftig sind, gewährt, indem er das Blut, kaum ist es aus der verdauten Speise gewonnen, gleichmäßig auf die Adern verteilt. Indem Menenius auf dieseWeise vor Augen rückte, wie der innere Aufruhr des Körper dem Zorn der Plebejer gegen die Patrizier ähnlich sei, habe er die Gemüter der Menschen umgestimmt.)

Die in dieser Fabel erhaltene Denkweise, deren Struktur im übrigen nicht orthodox stoisch gedacht ist15, entspricht ganz dem hierarchisch-organischen Denken, wie es uns für das vorklassische Recht erschließbar ist. Durch die civilis scientia der vorklassischen Jurisprudenz, die Q. Mucius augur dem philosophischen Rhetor, wie Cicero ihn will, abspricht und als eine Klugheit eigener Art beansprucht – der Augur war vor Q. Mucius pontifex maximus der erste Lehrer Ciceros in der vorklassischenTradition – sind die Zwölftafeln zum Zentrum der organisch richtigen Verfassung des Gemeinwesens geworden. o k k o b e h r e n d s 26 CICERO, I 43, 193 si ... quem civilis scientia (sc. delectat), quam Scaevola non putat oratoris esse propriam, sed cuiusdem ex alio genere prudentiae, totam hanc descriptis omnibus civitatis utilitatibus ac partibus XII tabulis contineri videbit (Wenn jemand die bürgerliche [d.h. die politische im umfassenden Sinn desWortes] Wissenschaft erfreut, von der Scaevola [der seine von der Stoa geprägte Meinung als Dialogteilnehmer bereits ausgeführt hatte] nicht glaubt, daß sie dem Redner zu eigen ist, sondern zu einer gewissen Klugheit einer anderen Kategorie gehört, wird erkennen, daß sie als ganze unter Ordnung aller Güter und Gliederungen der Bürgerschaft 16 in den Zwölftafeln enthalten ist.) 15 Der Zustand der Uneinigkeit der Glieder, die Motive der Evolutionstheorie des Empedokles zu verarbeiten scheint (danach hätte die Natur die Glieder vor dem Körper geschaffen und nur die überlebt, die sich in gelungener Weise zu Körpern zusammengefügt haben), postuliert aber insofern der analytischen Form nach einen vorstaatlichen Zustand der Menschen, wie ihn wohl die akademische Skepsis, nicht aber die Stoa gekannt hat. Sie erinnert mit ihrer Analogie von Mensch und Staat im übrigen an PlatonsVorstellung (Politeia 368 e), daß sich die Gerechtigkeit nicht nur im einzelnen Menschen, sondern auch in einem ganzen Stadtstaat finde. 16 Das describere betont die Positivität (vgl. Cicero, de legibus I 5,5, wo die idealen Normen [leges quibus civitates regi debeant] dem positiv angeordneten Recht [quae composita sunt et descripta, iura et iussa populorum, in quibus ne nsotri quidem populi latebunt quae vocantur iura civilia] entgegengesetzt sind), ohne damit eine fruchtbare Auslegung (interpretatio) auszuschließen. Denn die vorklassische Auslegung versteht das Gesetz als dieWahl des Richtigen und übernimmt daher die Aufgabe, den gesetzlichen Ordnungsversuch in entsprechender Weise zu Ende zu denken. Die utilitates im obigen Text sind alle Güter, welche in den menschlichen Verhältnissen bewegt werden (vgl. Cicero, de officiis I 7, 22; de re publica I 4, 8), die partes sind die Rollen, die in den Gliederungen des Rechts möglich sind, sowohl die der Magistraturen, welche die utilitates publicae, wie die der Bürger und Menschen, welche über die utilitates privatae verwalten.

Dieser Wissenschaft wegen kann Crassus den Zwölftafeln den unerschöpflichen Reichtum zuschreiben, wie ihn nur eine durch Rechtsprinzipien aufgeladene Kodifikation hat. Cicero läßt dies alles den Licinius Crassus, sein großes Vorbild in der philosophischen Rhetorik, aus der Perspektive des Redners sagen, der die Rechtskenntnis für den Redner unabdingbar findet, und in seiner Zeit keine andere findet als dieVorklassiker19, deren Rang er darum nicht müde wird zu preisen. Es sei unglaublich, wie ungegründet und fast lächerlich jedes andere ius civile imVergleich zum eigenen sei, das aus der geistigen Arbeit d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 27 CICERO, de oratore I 44, 195 Fremant omnes licet, dicam quo sentio: bibliothecas me hercule omnium philosophorum unus mihi videtur XII tabularum libellus, si quis legum fontis et capita viderit, et auctoritatis pondere et utilitatis ubertate superare. (Es mögen alle murren, ich [d. h. Licinius Crassus]17 will sagen, was ich meine: Das eine kleine Büchlein der Zwölftafeln übertrifft, beim Herkules, wenn man auf die Quellprinzipien der Normen blickt, sowohl an Gewicht der Geltung als auch an Reichtum seiner Zweckmäßigkeit die Bibliotheken aller Philosophen).18 17 Dem Cicero hier die Rolle dessen überträgt, der, da die neue Jurisprudenz des Servius damals noch nicht zur Herrschaft gekommen ist, in ungehemmterWeise der vorklassischen Jurisprudenz seiner Lehrer Q, Mucius augur und pontifex huldigen kann. 18 Es beruht auf einemWechsel der Perspektive, wenn Cicero, de legibus I 5, 17 (non ergo a praetoris edicto, ut plerique nunc, neque a duodecim tabulis, ut superiores, sed penitus ex intima philosophia haurienduam iuris disciplinam) die Zwölftafeln der vorklassischen Jurisprudenz ebenso wie das Edikt der neuen Jurisprudenz der Philosophie entgegensetzt. Cicero versucht, wie er unmittelbar darauf folgend ausführt, einen Standpunkt einzunehmen, der in seinem Ansatz über den beiden positiven Jurisprudenzen steht. Daher will er das Recht aus der Natur des Menschen ableiten und Gesetze formulieren, die überall gelten sollten. Die positiven Rechte werden aus dieser Sicht, wie er klar macht, zu konkretisierten Einzelfällen, die von jenem Ausgangspunkt aus rechtsethisch bewertet werden können. Die konstituierenden philosophischen Einflüsse, die in den beiden Jurisprudenzen verarbeitet sind, werden nicht erwähnt, machen aber diese übergreifende Sichtweise überhaupt erst möglich. 19 Daher sagt Licinius Crassus De oratore I 44 197 his ego de causis dixeram, Scaevola, eis, qui perfecti oratores esse vellent, iuris civilis esse cognitionem necessariam. (Aus diesen Gründen [wegen der beschriebenen Perfektion des vorklassischen Rechts] habe ich gesagt, Scaevola, daß denjenigen, die vollkommene Redner sein wollen, die Kenntnis des bürgerlichen Rechts notwendig ist.)

der maiores hervorgegangen sei.20 Und wegen dieser iuris civilis scientia, die in den Zwölftafeln stecke und sie so reichhaltig machte, sei Sextus Aelius Paetus Catus, der erste Kommentator des Gesetzbuchs, vom größtem Dichter der Zeit, von Ennius, durch einen ihn rühmendenVers ausgezeichnet worden.21 Es ist die stoisch geprägte civilis scientia der maiores, die lehrt, daß die Rechtsordnung einer jeden civitas aus ius civile und ius gentiumbesteht, und zwar deswegen, weil die ursprüngliche Einheit der societas humana mit geschichtlicher Notwendigkeit der Gliederung der Menschnheit in zahlreiche Gemeinwesen Platz machen mußte. Der unter den Menschen auftretendeWille, jeweils ein besonderes, individuell bestimmtes Leben zu führen, erzeugte Gemeinwesen wie Privateigentum, und zwar durch die Erkenntnis, daß die ursprüngliche, das menschliche Zusammenleben solidarisch ordnende Naturvernunft durch die entsprechenden hinzutretende Rechtsformen, welche der Unabhängigkeit der Staaten und ihrer Bürger zu schützen imstande sei, o k k o b e h r e n d s 28 20 Cicero, de oratore I 44, 197 Percipietis etiam illam ex cognitione iuris laetitiam et voluptatem, quod, quantum praestiterint nostri maiores prudentia ceteris gentibus, tum facillime intellegetis, si cum illorum Lycurgo et Dracone et Solone nostras leges conferre volueritis; incredibile est enim, quam sit omne ius civile praeter hoc nostrum inconditum ac paene ridiculum. (Ihr werdet auch aus der Kenntnis des Rechts Freude und Genuß ziehen, weil ihr rasch begreifen werdet, wie sehr unsereVorfahren an “Klugheit” den anderenVölkern überlegen sind, wenn ihr unsere Gesetze mit deren Lykurg, Drakon oder Solon vergleichen wolltet; es ist nämlich unglaublich, wie jedes Bürgerliches Recht außer unserem unbegründet und fast lächerlich ist.) Gemeint sind wieder in erster Linie die leges duodecim tabularum, die von der “prudentia”, die Scaevola augur im Gegensatz zur rhetorisch-philosophischen Kultur “ex alio genere” ableitete, nämlich aus der Rechtslehre seiner Stoiker (Cicero, de oratore I 10, 43). 21 Cicero, de oratore I 45, 198 ille, qui propter hanc iuris civilis scientiam sic appellatus a summo poeta est: ‘egregie cordatus homo, catus Aelius Sextus’. (Jener, der wegen der Kenntnis dieser bürgerlichen Rechtswissenschaft vom größten Dichter folgendermaßen gekennzeichnet worden ist:“ein Mensch mit einem großen Herzen, der grundgescheite Aelius Sextus). Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Ennius in die zweifache Qualifikation des Juristen den Dualismus hineinlegt, der die Wissenschaft kennzeichnete, die der Zwöftafelkommentar des Aelius (zu ihm Pomponius lg sg enchiridii D1,2,2,38) an das alte Gesetz herangetragen hat. Insofern “cordatus” einen Menschen, der durch die Qualität seines Herzens hervorragt, könnte er die mitmenschlichen Prinzipien des ius gentium repräsentieren, welche in der Eigentümergesellschaft den gesamten Rechtsverkehr regeln, insofern er “catus” ist, steht er für die Regeln des Eigennutzes, die das ius civile im engeren Sinne und den Freiheitskern des Rechts ausmachen. Vgl. oben Anm. 16.

auf die Rolle eines zwischenmenschlichen, innerstaatlichen und völkerrechtlichen Verkehrsrechts zurückgeführt werden müsse. Diese Sonderformen sind nötig, weil es unter der Alleinherrschaft des solidarischenVertrauensprinzip keine Freiheit im Sinne individueller Geschichte der Gemeinwesen und individueller Biographien der Menschen geben kann. Mit dieser Begründung sind diese Zusätze selber Ableitungen aus der Naturvernunft, deren ursprünglicheWirkung sie modifizieren und in ein Kontrollprinzip des Verkehrsrecht der Eigentümergesellschaft verwandeln.22 d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 29 22 Vgl. einerseits die Kardinalstelle der vorklassischen Rechtstheorie Cicero, de officiis III 17, 69: maiores [!] aliud ius gentium, alius ius civile esse voluerunt, quod civile, non idem continuo gentium, quod autem gentium, idem civile esse debet mit der folgenden Illustration des ius gentiumdurch die von der bona fides beherrschte societas vitae der Menschen, andererseits die Erläuterung der Lehre der maiores durch die folgenden Fragmente aus der stoischen Rechtslehre. Das Fragment v. Arnim, StoicorumVeterum Fragmenta III S. 97 Nr. 323 (Philus de Joseph.Vol. II Mang. p. 46) erläutert, daß der aufkeimende Wunsch der Menschen, sich aus der naturhaften Vermischtheit und Ununterscheidbarkeit des Ursprungs herauszuheben, die ursprüngliche Gemeinschaft aufgehoben und zum Schutz der Aneignungen und des Eigennutzes die Hinzufügungen der gesetzlichen Formen der Staatenwelt bewirkt und die Erkenntnis durchgesetzt hat; daß die ursprünglichen, die Menschen zu einer vertrauensvollen Gemeinschaft verbindenden Gebote der Natur nicht mehr genügten. Das von Natur aus Gerechte ist seitdem, wie das Fragment v. Arnim, III S. 76 Nr. 308 (Diog. Laert.VII 128) bezeugt, in zwei Teile gegliedert, in den νόμος, der die ausdifferenzierte Staatenwelt erzeugt, und den ὀρθὸς λόγος, in dem das ursprüngliche Vertrauensprinzip in der neuen Welt für alle Menschen fortwirkt. In pointierter Weise abgerundet wird das Bild dieser Rechtstheorie durch das Fragment v. Arnim, III S. 87/88 Nr. 360 (Philus quod omnis probus liberVol. II p. 542, 22 Mang.), das erzählt, daß die weisen Gesetzgeber der Athener und Spartaner Solon und Lykurg erkannt hätten, daß die Alleinherrschaft des ὀρθὸς λόγος nicht ausreiche, um den dem Recht Unterworfenen eine Teilhabe an der Freiheit zu gewähren, vielmehr aus dieser Quelle Gesetze abgeleitet werden müßten, welche den nach ihnen Lebenden die Freiheit verschafften, und zwar Freiheit im Sinne der autopragía, des Lebens unter den differenzierten Bedingungen der Stadt, in der ein jeder seinen besonderen Aufgaben nachgeht und das Prinzip des Lebens die spezialisierende Beschränkung wird (v.Arnim III S. 86 Nr. 353 [Diog. Laert.VII 121] und III S. 176 Nr. 703 [Plutarch de Stoic. repugn. cp. 20 p. 1043a]). Seneca berichtet in dem90. Brief unter Berufung auf den Stoiker Poseidonios in übereinstimmenderWeise, daß es eine Gesetzgebung der Weisen war, unter ihnen Solon und Lykurg, welche den Ausgang aus dem Goldenen Zeitalter der Alleinherrschaft desVertrauensprinzips bewirkt habe (90, 56; siehe auch 90. 36 ff.). Man muß diese Überlieferung verbinden mit der Äußerung Ciceros, de oratore I 44, 197 (oben Anm. 20), der für die Leistung eines Lykurg und Solon nur einen mitleidigen Blick übrig hat und sie nahezu lächerlich findet, wenn er sie mit denen der vorklassischen Zwölftafelinterpreten Roms vergleicht.

Diese Überzeugungen haben die prudentia quaedam ex alio genere erzeugt, von der Cicero in bezug auf Mucius augur spricht. Es ist die auf ein umfassendes System bezogene praktische Klugheit, die es vermocht hat, aus den Zwölftafeln eine Kodifikation zu machen, an der noch Justinian und über ihn die Neuzeit Maß nehmen konnte, ein niemals um eine Antwort verlegenes corpus iuris. Das organische System, das Savigny mit einem wissenschaftlichen Gesetzbuch verbindet, ist hier das erste Mal verwirklicht, und zwar mit vollem methodischen Bewußtsein.Denn der Begriff der ars, der das römische Recht in einer berühmten Defintion dauernd geprägt hat23, ist in der ursprünglich stoischen, zu der vorklassischen Jurisprudenz gehörenden Bedeutungem untrennbar mit derVorstellung des Systems verbunden, und zwar des Systems im Sinne der Zusammenstellung von lebensnützlichenWirkprinzipien. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß die lateinischen Versionen, wie hier auch Quintilian, den Ausdruck σύστημα, der die geordnete Zusammenstellung hervorhebt und der in den griechischen, die τέχνη definierenden Parallelstellen regelmäßig verwendet wird,24 in der Regel weglassen; denn sie denken ihn in dem Begriff der ars mit.25 o k k o b e h r e n d s 30 Dieses Urteil ist erklärlich. Die vorklassischen Juristen Roms habe jeneTheorie wirklich angewendet und in ein professionelles System umgesetzt. Solon und Lykurg figurieren dagegen in der Rolle der insofern “Wissenden” nur im Geschichtsmythos und gewisserweise kraft nachträglicher Ernennung. All das sind Zusammenhänge, die Cicero klar gewesen sein dürften. 23 Ulpian 1 institutionum D1, 1, 1,1 ut eleganter Celsus definit, ius est ars boni et aequi. 24 Vgl. die auf den Schulgründer Zeno zurückgeführte Definition v.Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta I S. 21 Ziff. 73; ferner aaO II S. 30 Ziff. 93, 94, S. 31 Ziff, 97. 25 In den vier Belegen aus Cicero, die v.Arnim, StoicorumVeterum Fragmenta I S. 21 Ziff. 73 mitteilt, an die sich die Definition Quintilians bis zu einem Grade anschliv. Arnim, StoicorumVeterum Fragmenta I S. 21 Nr. 73 (Quintilian II 17, 41) artem constare ex perceptionibus consentientibus et coerxicitatis ad finem utilem vitae (Eine praktische Klugheitslehre besteht aus miteinander im Einklang stehenden und auf einen nützlichen Lebenszweck ausgerichteten Begriffen.)

Zugleich bezeichnet die ars die praktische, aus Einzelbegriffen zusammengesetzte Wissensform, die – im Gegensatz zur Allwissenheit, die nur dem Idealbild des Weisen zugänglich ist – auch dem nach Wissen strebenden empirischen Menschen erreichbar ist.26 Es ist ein systematisches Wissen, aber als solches zusammengesetztes Stückwerk und daher auch in der Praxis mit dem Risiko der richtigen Anwendung behaftet . Es ist diese praktische Kunst, die Cicero in Bezug auf die Jurisprudenz seiner Lehrers Augur als prudentia quaedam ex alio genere umschreibt. Savigny hat daher die Gegenwart des organischen Denkens im römischen Recht richtig empfunden und auch zutreffend erkannt, daß zwischen wissenschaftlichem System und praktischer Kunst kein Widerspruch besteht, vielmehr alles darauf ankommt, sie durch die Art und Weise der Berufsauffassung zu einer Einheit zu verbinden.27 Er war allerdings denkbar weit entfernt, diese in den römischen Quellen begegnende Denkweise mit ihren stoischen Anfängen inVerbindung zu bringen. d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 31 eßt, ist nur einmal τέχνη mit constructio (Zusammenfügung einzelner Stücke insbesondere im Bauwesen) wiedergegeben. Der Übersetzungsversuch erinnert an den Begriff der Konstruktionsjurisprudenz.Vgl. nur Franz Wieacker, Die juristische Sekunde. Zur Legitimation der Konstruktionsjurisprudenz, in: Hollerbach/Maihofer/ Würtenberger (Hrsg.), Existenz und Ordnung, Festschrift ErikWolf zum60. Geburtstag, 1962, S. 421-453. 26 Daß die κατάληψεις, die als begriffene wahre Sachverhalte in ihrerVerbindung das System bilden und zwischen Wissen und Meinen angesiedelt sind, nach stoischer Lehren allen Menschen zugänglich sind, erläutert die Stelle v. Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta I S. 29 Ziff. 90 (Sextus adv. math.VII 151). Daher ist es dieser Lehre möglich zu sagen, daß das gesamte, gegliederte Recht, das von der Natur geschaffen ist (v. Arnim III S.76 Nr. 308 [Diog. Laert.VII 128]), grundsätzlich, d.h. in seinen Prinzipien, von Natur aus erkannt wird (v. Arnim II S. 29 Nr. 87 [Diocles Magnes apud Diog. Laert.VII 52]). Da die Beachtung des Rechtssystems nicht im Zustand der – demWeisen vorbehaltenen – Allwissenheit geschieht, bewegt sie sich auch bei den Juristen und Richtern im Bereich der (media) officia, der Pflichterfüllung der strebenden Menschen. Es genügt daher zur Pflichterfüllung, daß derjenige, der rechtlich handelt, dafür eine wohlbegründete, aus dem Recht abgeleitete Rechtfertigung zu geben vermag.Vgl. v.Arnim, StoicorumVeterum Fragmenta III S. 134 Ziff. 494 (Stobaeus ecl. II 85, 13). 27 Vgl. hierzu und zum folgenden auch meine Savigny-Interpretation in Okko Behrends/Malte Diesselhorst/Wulf Eckart Voss, Römisches Recht in der europäischen Tradition, Symposion aus Anlaß des 75. Geburtstages von FranzWieacker, (1985) S. 275 - 321.

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