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d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 155 ten als ein Startsignal für die justiziellen Horrorgeschichten erscheinen könnten.Treu und Glauben, gute Sitten etc. sind nach dem estnischen Schuldrechtsgesetz (§§ 5-7) nicht nur etwa Korrektionsmitteln für den Fall der offensichtlichen Ungerechtigkeit der einzelnen Schuldverhältnisse, sondern die allgemeinen und vor den Klammern gesetzten Prinzipien des Schuldrechts.29 Dass die praktische Handhabung der grosszügigen Generalklauseln in Estland des 21. Jahrhunderts zu keinen Rechtsmissbräuche führt wie etwa in den Unrechtsdespotien des 20. Jahrhunderts (vor allem KP-Sowjetunion und NS-Deutschland), kann man allerdings nur hoffen. Eine strenge gesetzlich oder auch durch die Rechtsdogmatik gezogene Grenze gibt es nicht.Als legal irritants werden die Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe in Estland jedoch nicht empfunden.30 Wenn man bei der kasuistischen Regelungstechnik auf dasVergleichbare von der Privatrechtsgeschichte Estlands hinweisen will, findet man die Gewöhnung der estnischen Juristen an das Unbestimmte in Gesetzesvorschriften der Sowjetzeit. Nicht zufällig wurde in der Koalitionsvereinbarung vom1992 von der Erhöhung der Regulativität der Gesetze und vom möglichen Vermeiden der Rahmengesetze gesprochen. Die Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe und der gewichtige Anteil der Generalklauseln hat das Sowjetrecht von Anfang bis Ende charakterisiert. Etwas unbefangen haben die estnischen Juristen die Befangenheit an dieserTradition mit in das Umgehen mit dem neuen Europarecht transportiert und betrachten diesen abermaligen Engpunkt des Richtlinienrechts ganz ohne Empörung und Unheimlichkeitsgefühl. 29 Zu dem Grundsatz von Treu und Glauben im neuen estnischen Privatrecht gibt es mittlerweile eine estnische Doktoratsarbeit: I. Kull, Hea usu põhimõte kaasaegses lepinguõiguses. Tartu 2002 (Dissertationes iuridicae universitatis Tartuensis 8) mit der englischen Zusammenfassung: Principle of good faith in modern contract law, S. 220 ff. 30 Der Begriff von legal irritants ist geprägt von G.Teubner für die Lage des Prinzips von Treu und Glauben in der englischen Rechtskultur: G.Teubner, Legal Irritants: Good Faith in British Law or How Unifying Law Ends Up in New Divergenses. – In: Modern Law Review,Vol. 61, 1998, S. 11 ff.

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