RS 21

Das europarecht 179 ungeregclten Fällc fällt in die Hände des richterlichen Ermessens. Kann man sich nicht in dieser Lage auf andere Rechtsquellen berufen, umdas Gesetz auszufiillen, so mub Gerichtshöfen und anderen Organen der Rechtsanwendung das Recht zuerkannt werden, neue Rechtsregeln fiir ungeregelte Fälle frei zu schaffen. Nicht einmal bescheidene Anspriiche auf Voraussehbarkeit und Gleichförmigkeit in der Praxis können in einer solchen Lage garantiert werden. In einer Rechtsordnung, die auf verschiedenen Rechtsquellen begriindet ist, bedeutet die Behauptung, dal? das Gesetz nicht liickenlos sein kann, nicht notwendigerwcise auch, daB das Recht als ein Ganzes Lticken enthält. Sowohl die Gerichtspraxis als die Dogmatik sorgen daftir, daE fiir jeden Fall ein Rechtsgrund ftir die Rechtsanwendung der Gerichtshöfe und Behörden vorhanden ist. Wenn aber diese Rechtsquellen ihre Autorität verlieren und durch die Kodifikation ersetzt werden, wird dieser Ausweg verschlossen.'^ Abgesehen von demzweifelhaften Wert einer umfassenden Rechtsbildung ad hoc und den offenbaren Schwierigkeiten in einer solchen Lage, sogar bescheidene Anforderungen an Rechtssicherheit zu gewährleisten, besteht ein grobes Risiko, daB die ungebundene Normgebung der Praxis zu einemchaotischen Rechtszustand ftihren könnte. Und selbst wenn es möglich wäre, eine vollständige Kodifikation des Europarechts zustandezubringen, scheint es mir wahrscheinlich, dalJ die nationalen Gerichtshöfe diese Regelung aus ihrem eigenen rechtsgeschichtlichen und damit nationalen Kontext heraus anwenden und auslegen wiirden.'^ Ganz einfach deshalb, weil es sonst keinen Auslegungsgrund auberhalb der Kodifikation gibt. Eine Kodifikation des Europarechts, mit dem Zweck, eine perfekten Rechtseinheit zu schaffen, kann also paradoxerweise zu dem entgegengesetzten Ergebnis fiihren; auf der Oberfläche schiene das Recht zwar uniform, aber in der Rechtsanwendung fehlte es sowohl an Gleichförmigkeit als auch an Voraussehbarkeit. Die Gefahr besteht hauptsächlich darin, daB diese Unsicherheit in der Praxis auch auf Dauer besteht und vielleicht sogar die schon vorhandenen Ergebnisse der Rechtsannäherung bedrohen wiirde. Uberhaupt mub - vomGesichtspunkt der Kodifikation- die Wirksamkeit anderer Rechtsquellen als eine potentielle Bedrohung angesehen werden. Die Einheit der Kodifikation ist zerbrechlich - ja zum groBen Teil sogar illusionär - und kann diesc Aufgabe, worin Alle cinstimmcn, rccht zu verstehen. Das Gcsetzbuch niimlich soil, da cs einzigc Rechtsqucllc zu seyn bestimmt ist, auch in der That fur jeden vorkommenden Fall imvoraus die Entscheidung enthalten. Dieses hat man häuftig so gedacht, als ob es möglich und gut ware, die einzelnen Fcälle als solche durch Erfahrung vollständig kennen zu lernen, und dann jeden durch cine entsprechende Stcllc des Gesetzbuchs zu entscheiden. Allein wer mit Aufmcrksamkeit Rechtsfalle beobachtet hat, wird leicht einsehen, da dieses Unternehmen deshalb fruchtlos bleiben muik weil es fur die Erzeugung der Verschiedenheiten wirklicher Fälle schlechthin keine Granze giebt". Auf jeden Fall wahrend einiger Zeit. Dies kann nur in einem sehr begrenzten Mal5 durch die Prajudizienbildung des EuGH verhindert werden.

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