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Marie Sandström schend, sodafi die rechtliche Zersplitterung Europas in der Tat nicht vorhanden ist, oder, wenn das Problem jedoch existiert, so leisten diese Hinweise iiberhaupt nichts. Die Versuche, diese naturrechtliche Tradition kiinstlich wiederzubeleben, sind deshalb entweder bewufit unehrlich*^ oder das Ergebnis einer methodologischen Naivität unter Rechtswissenschaftlern. Das Ergebnis dieser Uberlegung ist enttäuschend; der Gesetzgeber, der daran gebunden ist, einen politischen Konsens zu finden, „tut es schlecht“; der Rechtswissenschaftler könnte zwar, auf Grund einer materiellen, vermeintlich naturrechtlichen Systematik, ein gemeinsames Recht schaffen. Damit wiirde er aber sein wissenschaftliches Mandat verlassen. Das Repertoire der europarechtlichen Rechtsquellenlehre scheint damit erschöpft zu sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber eine dritte Möglichkeit in der Kombination dieser zwei Rechtsquellen: Die Verschmelzung der systematischen Einheit und Vollständigkeit der Naturrechtslehre und der politisch begriindeten Autorität der Gesetzgebung scheint die ideale Lösung zu sein. Diese Beschreibung entspricht in jeder Hinsicht den grofien Kodifikationen der Aufklärung. Der Zweck der Kodifikation ist ja gerade Rechtsvereinheitlichung. Sämtliche bisherigen Rechtsquellen sollen durch eine einheitliche und vollständige Gesetzgebung ersetzt werden. Die Kodifikation des Rechts geschieht mittels der Gesetzgebung, aber das Ziel einer Kodifikation geht fiber die Ambitionen der Gesetzgebung weit hinaus. Im Gegensatz zu einem normalen, einzelnen Gesetzgebungsunternehmen, das als ein integrierender Teil in den systematischen und historischen Zusammenhang des Rechts eingeht, zerstört die Kodifikation die Kontinuität und die bisherige Systematik und ersetzt sie durch eine eigene, innere Einheit. Denn nur auf diese Art und Weise kann die Kodifikation ihren Zweck, unmittelbare Rechtseinheit, erfiillen. Das setzt aber voraus, dal^ es iiberhaupt möglich ist, ein ganzes Rechtssystems auf einmal zu schaffen. In einer Rechtsordnung, deren Inhalt aus mehreren Rechtsquellen verschiedener Art herv'orgeht, ist diese Forderung nach Vollständigkeit nicht so problematisch. Aber wenn es, umdie Rechtseinheit gewährleisten zu können, eben nur eine Rechtsquelle geben soil - wenn auch fiir eine begrenzte Zeit - dann ist diese Frage entscheidend. Savigny hat, aus guten Grfinden, es fur grundsätzlich unmöglich gehalten, empirisch-praktische Vollständigkeit in der Gesetzgebung zu erreichen.*^ Die Lficken imGesetz, die dann unvermeidlich sind, mfissen durch die Rechtsprechung ausgefiillt werden. Die Lösung der Das Unehrliche wiirde also in dem Versuch, politische Wunschvorstellungen unter einem rcchtswissenschaftlichen Deckmantel zu verbergen, bestehen. Wenn der Rechtswissenschaftler die fur die Naturrechtslehre eigenartigen methodologischen Probleme nicht lösen kann, dart er auch nicht die Autorität dieses Argumentationgrundes ausniitzen. Savigny, Friedrich Carl von, Vom Beruf imserer Zeit fiir Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Ncudruck nach der 3. Aufl., Freiburg 1892, S. 13: „In Ansehung des Stoffs ist die wichtigste und schwierigste Aufgabe die Vollständigkeit des Gesetzbuchs, und es kommt nur darauf an. 178

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