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PaoloGrossi In der unvermeidlichen Verkomplizierung der sozialen, ökonomischen und juristischen Beziehungen, die dadurch verursacht wurde, zeigte sich das absolutistische Kartenhaus als das, was es zu einem guten Teile gewesen war, und zwar als eine intelligente Fiktion: ein essenzielles Szenarium, das nur aus zwei Protagonisten bestand, demStaat und dem Individuum, wobei der Staat als die einfachst denkbare Struktur und darummonolithisch konzipiert war; die Ordnung war im Gesetz aufgelöst und zwar in der Mutter aller Gesetze, dem Kodex, dem Biirgerlichen Gesetzbuch, das seinerseits auf nur einem, einem einzigen Pfeiler ruhte — dem individuellen Eigentum— und das sich auf recht einfache Weise artikulierte, umin erster Linie den Schutz und die freie, rasche Zirkulation des Eigentums zu realisieren und zwar mittels Verträgen, Testamenten und demPrinzip strenger vertraglicher Haftung. Diese ganze harmonische und einfache Konstruktion mit seinen fast gaianischen Linien traf sich mit den Tatsachen in einem grofien Durcheinander und erschien unfähig, die innerlich neue Realität zu ordnen. Gegeniiber der schönen aufklärerischen Fabel, aus immer statuenhafter erscheinenden Modellen konstruiert, wurde die Komplexität des Juristischen wiederentdeckt und man erriet, dafi nur durch die Wiederentdeckung dieser Komplexität die Juristen, gleich ob Gelehrte oder Richter, die Möglichkeit einer erneuerten Biirgerschaft hatten. Die letzten zwei Jahrzehnte des Jahrhunderts miissen als die Zurkenntnisnahme der immer gröl^eren Verkomplizierung des sozio-ökonomischen Universums interpretiert werden, mit der daraus folgenden Wiederentdeckung der Komplexität des Juristischen und der noch klareren Folge der Unfähigkeit der monokratischen Quelle— demGesetz — eine derart komplexe Gesellschaft wiederzuspiegeln und zu ordnen. Und am Grunde lauert das Gespenst einer Trennung zwischen der schnell wachsenden Gesellschaft und dem gesetzlichen Recht. Das ist, unserer Meinung nach, der auf den Punkt gebrachte Sinn jenes kräftigen Trompetenstofies (wesentlich kräftiger als der doppeldeutige Billow im „Gesetz und Richteramt“^ und wesentlich „positiver“ der alten (1872) „philosophierenden" Vorschläge Adickes^ iiber die „Rechtsquellen“), den der deutsche Joseph Kohler 1886 in der Wiener Zeitschrift Griinhuts mit seinem reichen und dichten Aufsatz „Ueber die Interpretation von Gesetzen“^ gab. Man banalisiert ihn, wenn man ihn als Manifest der kreativen Kraft der Jurisprudenz (wie er ein im folgenden Jahr geschriebenes Werk nennt) und als Vorwegnahme des Freirechts exaltiert oder verdammt; man nimmt seine wichtigste Botschaft auf, wenn man in ihr ein Indiz der Unzufriedenheit mit einem rein gesetzlichen Recht wahrnimmt sowie den Versuch, die Grenzen des formal42 ^ O. Biilow, Gesetz und Richteramt, Leipzig, 1885 (Neudr.: Aalen, Scientia, 1972). ^ F. Adickes, Zur Lehre von den Rechtsquellen insbesondere iiber die Vernunft und die Natur der Sache als Rechtsquellen und iiber das Gewohnheitsrecht, Kassel/Gottingen, Wigand, 1972. ’’ Siehe in Zeitschrift fiir das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart, XI II (1886).

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