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43 JURISTISCHFRABSOLUTISMUS UND PRIVATRECHT IM 19. JAHRHUNDERT juristischen Territoriums so weit als möglich zu stecken: dieses ist die Bedeutung der Gegenposition zwischen dem Willen des Gesetzgebers und demWillen des Gesetzes, welch letzteres als „ini teleologischen Sinne als organisches Zweckbestreben" „mit alien seinen unmittelbaren rechtlichen Folgen, die möglicherweise weit aul^erhalb seines Gesichtskreises liegen“** verstanden wird und dieses ist die Bedeutung des Prinzips — das die gesamte Arbeit belebt — der potenziellen Elastizität des Gesetzes mit der nötigen Aufmerksamkeitsverschiebung vom Gesetz (als Monade im Moment seiner autoritären Formulierung verschlossen) zum Leben des Gesetzes in Zeit und Raum, d. h.: zu seiner Anwendung. Wenn es fiir Kohler leichtes Spiel war, seine Wahrheit im freien Klima auszudriicken, das durch eine jahrhundertelange, bewundernswerte Reflektion von Pandektisten und Germanisten fruchtbar gemacht worden war und wo sich bereits eine dialektisch gezeichnete Diskussion fiir das zukiinftige BGB entziindet hatte, sehen wir jedoch eine authentische Spannung auch in Frankreich auftauchen, wo sich die Mutter und Meisterin aller Kodifikationen realisiert hatte und noch immer gait und die kräftigste und koherenteste sowie in ihrer Struktur durchdachteste ist: es werden Raymond Saleilles, Edouard Lambert und vor allem Francois Geny auftauchen. Das Werk Genys, von demwir bereits gesprochen haben, „Méthode dhnterprétation et sources en droit privé positif“ gehört zur begrenzten Zahl der kapitalen Zeugnisse des modernen juristischen Gedankens. Geschrieben als Epilog eines fruchtbaren und bewegten, fur die Reflektion iiber die Quellen wichtigen Jahrhunderts ist es eine Zusammenstellung des Unwohlseins und der Frustration, die sich im freien Geist eines Wissenschaftlers hohen Ranges gegentiber dem verschlossenen und darum erstickenden Klima des juristischen Absolutismus angesammelt hatten. Es sei erlaubt, kurz bei einem der befreiendsten Momente der Geschichte der europaischen Rechtswissenschaft innezuhalten. Man bemerke, daE der Autor ein Berufszivilist und kein Philosoph ist und dazu noch ein Zivilist, der sich im strengsten Rahmen des positiven Rechts halten möchte, auch wenn er ein Techniker ist, der hauptsächlich und mit grofiem Vorbedacht von Methode spricht. Man bemerke ferner, daB der Schreiber französischer Kultur und Sprache ist, aber auf lothringischem Boden lebt, welcher, am Ende des 19. Jahrhunderts mehr als je ein Gebiet der Zusammenstöfie und Begegnungen mit der deutschen Koiné ist. Das umfangreiche Werk ist in der Tat ein minuziöses „examen de conscience". Ein Jahr vor Beginn des neuen Jahrhunderts geht der Jurist in sich, fragt sich aus; wie alle Gewissenspriifungen, die fruchtbar sein wollen, ist es eine mitleidslose Diagnose der Vergangenheit und Gegenwart, aber auch ein Projekt der Neugriindung, und als solches ein Diskurs fiber die Methode, dank derer eine Neugriindung möglich wird. All das steht im Zeichen einer substantiellen Ungehemmtheit des Blickes, der alles diskutieren will, nachdemer es aus den einst streng bewachten Heiligtiimern geholt hat. * Ucber die Interpretation von Gesetzen, cit., S. 2—3.

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