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174 MarieSandström rechtslehre von der rechtswissenschaftlichen Identität ausgemerzt wurde. Seine nähere Beschreibung der Methode des römischen Rechtswissenschaftlers bedeutete aber auch eine mehr oder weniger verhiillte Kritik an der Methodenauffassung, die von den Kodifikationsfursprechern, die von der „historischen Verschiedenheit des Stoffes" erschreckt zuriickwichen und absahen, verfochten wurde. Die römischen Juristen wurden von der historischen und praktischen Seite des Rechts nicht verschreckt; vielmehr sollte das Besondere im Zentrum der rechtswissenschaftliche Analyse stehen: „Haben sie einen Rechtsfall zu beurtheilen, so gehen sie von der lebendigsten Anschauung desselben aus und wir sehen vor unsern Augen das ganze Verhaltnifi Schritt fiir Schritt entstehen und sich verändern. Es ist nun, als ob dieser Fall der Anfangspunkt der ganzen Wissenschaft wäre, welche von hier aus erfunden werden sollte".In diesem Passus kommt der methodologische Ausgangspunkt der historischen Schule zu einem auBergewöhnlich deutlichen Ausdruck. Um jeden Preis mulsten die Rechtswissenschaftler den Abgrund liberbriicken, der sich in der Geschichte immer wieder zwischen der Rechtswissenschaft und dem praktischen Rechtsleben öffnet. Es scheint, als ob das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft ständig eine Auseinandersetzung mit anderen Arten juristischer Tätigkeit herzwänge; je stärker die rechtswissenschaftliche Identität geworden ist, desto mehr hat sie sich von ihrem eigenen Objekt und ihrer Realität entfernt. Das auffallendste Beispiel dieses ungliicksehgen Vorganges macht das Fundament der Naturrechtslehre aus: ein dualistisches Weltbild, in dem auch das Recht in zwei sich einander ausschliebende Rechtsordnungen aufgeteilt worden ist. Um diese scheinbar natiirliche Gegensätzlichkeit zu iiberbriicken, erscheint es notwendig, das Begriffspaar „Naturrecht" - »positives Recht" gegen eine andere Ausdrucksweise auszutauschen. In Gleichklang mit dem schellingschen Zeitgeist faBte Savigny das Verhältnis zwischen den allgemeinen Rechtsprinzipien und dem besonderen Fall als die zwei Seiten eines einzigen Gegenstandes auf. Das wichtigste Merkmal der wissenschaftlichen Fähigkeit eines Rechtswissenschaftlers wurde von seinemVermögen, sich frei zwischen diesen beiden Seiten zu bewegen, dargestellt. „In jedem Grundsatz sehen sie [die römischen Juristen der klassischen Zeit] zugleich einen Fall der Anwendung, in jedem Rechtsfall zugleich die Regel, wodurch er bestimmt wird, und in der Leichtigkeit, womit sie so vomAllgemeinen zum Besonderen und vom Besonderen zum Allgemeinen iibergehen, ist ihre Meisterschaft unverkennbar." Juristische Methodenlehre, S. 34. Bemerke den Hinweis aut Hufeland und .seine ..In.stitutionen des gesamten positiven Rechts", Jena 1798. „VomBeruf“,S. 18. A. a. O. S. 19. Vgl. mit dem zentralen Platz, den die Dichotomie allgemein-besonders in Schellings Methodenvorlesungen einnimmt und das Bejahen des Besonderen, des Historischen und des Konkreten, das den philosophischen Kern der schellingschen Erkenntnistheorie ausmacht, siehe vor allem von Schelling, Joseph Friedrich Wilhelm, Vorlesungen iiber die Methode des akademischen Studiums, aus Sämtliche Werke, Bd. V, Abt. I, Stuttgart/Augsburg 1859, passim.

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