RS 15

38 kontrollierte und iiberwachte Geschmack an der Agrargeschichte, an der Geschichte der technischen und ökonomischen Faktoren Anbau und Produktion also, der vielleicht noch immer die europäische Geschichtsschreibung kennzeichnet, jener einige grolse Vorteile gebracht, er hat sie aber auch mit dem fundamentalen Fehler behaftet, gegen ungleiche Werte und Kräfte taub zu sein. Als Juristen möchten wir )ene Rechtshistoriker, die darin eine fast mirakulöse Möglichkeit der Wiederbelebung und Regeneration gesehen haben, zu gröl?ter Vorsicht einladen. Während die näherliegenden Epochen durch den enormen Reichtuman präzisem Archivmaterial gerettet werden, ist das Panorama fiir das Mittelalter entmutigend. Wenn mit Fleifi und Miihe die vielen Bände der Agrargeschichte des Friih- und Hochmittelalters gelesen sind, bietet sich dem armen Leser ein ziemlich konfuses Bild. Der methodologische Kanon bleibt immer die sozialen Veränderungen, die Bliite und die Krise, deterministisch in prazise strukturelle Faktoren zu binden. Fiir den einen ist es die Uberbevölkerung in Bezug auf die kultivierten Landflächen, fur den anderen der langsame technische Fortschritt, fur einen weiteren die Schwäche feudaler Produktionsweisen und dann gibt es noch diejenigen, die demographische Krisen infolge von Hungersnöten und Epidemien auf den Plan rufen oder aber auf Preisbewegungen und Einkiinften herumhacken. Das Ergebnis ist oft allzu diinn: Forschungen in Bezug auf enge regionale Gebiete oder gar Beispiele einzelner Betriebe werden zu Modellen erhoben, Untersuchungen fiber Einzelfakten werden ungerechtfertigterweise verallgemeinert, wenige Daten einer fiir Statistiken unbrauchbaren Dokumentation werden benutzt, um proportional nicht zu rechtfertigende Schlulsfolgerungen zu stutzen, es dominiert stets die naive positivistische Illusion, den monokausalen Mechanismus entdeckt zu haben, der in einem wissenschaftlichen Buch mit der gleichen Unbefangenheit unterstrichen wird, wie sie ein nach leichtem Ruhm strebender Journalist haben kann, der dem Publikum einen vorgefertigten Schuldigen zum Frals vorwirft. Oft ist es eine Fantasmagorie von hinkenden Hypothesen, verpackt in paradoxale Verbindungen zum konkreten Fakt, auch wenn dieser, in Abwesenheit anderer, das Aufblitzen eines fantasiereichen Chronicons oder grob episodischen Charakters ist. Nun gut, sagen wir es frei heraus, der Historiker kann eine lebendige Abneigung beim Lesen solcher unfundierter Seiten, die geschichtlich sein wollen, nicht verbergen. Und diese Abneigung stammt von dementarteten Geschmack am Episodischen, und vomNiveausprung, den man dieser episodischen Realität zukommen läfit. Auch Vv^enn man positivistisch (oder materialistisch) den Blick auf das reine Strukturniveau halten möchte, fehlt einem der Atem, wenn die totale Abwesenheit des Versuchs entdeckt wird, die Beziehungen und die Art der Produktion einzuschliefien, umdie verstreuten Daten in ihr natiirliches Kulturgewebe einzufiigen und ein wahrhaft geschichtliches Verständnis zu erlangen. Später dann mufite man im Blick einen zweiten, schwierigeren aber

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYyNDk=