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101 meist ubersehene Sachverhalt, dafi Nietzsches antiquarische, monumentalische, kritische Historie ausdriicklich keinen Wissenschaftscharakter mehr haben soil. Das Problem von Objektivität und Wertsetzung soil also gelöst werden (1) durch den völligen Verzicht auf jegliche wissenschaftliche Objektivität und mehr noch, durch die Forderung, dafi die Historie keine Wissenschaft mehr sein soli; und (2) durch eine Rettung der Werte, die das Leben konstituieren weil sie das Handeln ermöglichen, indem diese Werte demZugriff der Historie als Wissenschaft ganz und gar entzogen werden. IV Nietzsches bohrende Fragen und seine Antworten wurden von den Fachwissenschaften seiner Zeit bekanntlich nicht aufgegriffen. Aber auch wenn die Antworten abgelehnt wurden, so wirkten doch Nietzsches Fragen weiter, vor allem, seit der Jahrhundertwende, bei Ernst Troeltsch und bei Max Weber. Ernst Troeltsch war neben Adolf von Harnack der herausragende Repräsentant der sogenannten liberalen historischen Theologie um 1900. Unter ausdriicklichem Hinweis auf Nietzsche, den ,,grofien geisteswissenschaftlichen Revolutionär des Zeitalters”, der „die Tafeln der bisherigen Werte zertriimmert” habe,^"* hat Troeltsch seit Anfang unseresJahrhunderts mit zunehmender Intensität iiber die Wirkungen des historischen und des historisierenden Denkens nachgedacht, fiber jenen historischen Skeptizismus und Relativismus, der ,,vor lauter Anempfindung an tausend gewesene religiöse Gefiihle und Meinungen keinen Mut mehr zu eigenem Ståndpunkt gewinnt”.^^ Diese Reflexionen fiber die Umwandlung der ,,Historie zumreinen Historismus”, zur ,,völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen mit dem lastenden und ermfidenden Eindruck historischer Aller-Welts-Kenntnis und skeptischer Unproduktivität ffir die Gegenwart”,^^ wurde mehr und mehr zum zentralen Problem der historisch-philosophischen Reflexion bei Ernst Troeltsch, wobei auch in diesen Zitaten deutlich wird, in welchemMafi er sich Nietzsches Stichworte zu eigen gemacht hat. Vor allemseit seiner Ubersiedlung nach Berlin 1915 und im bewufiten Erleben der inneren Krise des Deutschen Reiches und des Zusammenbruchs von 1918, hat Troeltsch das Thema des Historismus in die Mitte seiner Arbeit gestellt und in seinemmonumentalen Werk fiber den Historismus und seine Probleme 1922 umfassend dargestellt. Es sei auch auf -■* Troeltsch, Historismus (wie Anm. 5), S. 5 und 26. E. Trocltsch, Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart (1903), wieder abgedr. in; ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften 2), 1922, Neudr. 1981, S. 11. E. Troeltsch, Das Neunzehnte Jahrhundert (1913), wieder abgedr. in: ders., Aufsätze Geistesgescbichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4), 1925, Neudr. 1981, S. 628. zur

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