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Der „Individualismus“ gegen das Individuum (die in der abelardischen „Geschichte meiner Ungliicke" gipfelt) - auf weiter Ebene gerade der Praxis jenes mittelalterlichen Europas zugeschrieben werden mufi, das es in seinen Anfängen vomKonzept her als ineffahile erklärt hat (A. Ja. Gurevic, D. M. Chenu, E. Gilson) und dafi aul^erdem der juristische Individualismus und die Subjektivierung der juristischen Kategorien, die subjektiven Rechte, die individualistische Konzeption der Beherrschung des Selbst und der Dinge etc. sich auf die franziskanische Kontroverse uber das Eigentumund auf die scottistischen und hautpsächlich ockamistischen Doktrinen zurtickfiihren lassen (P. Grossi, M. Villey, J. N. Figgis). Und trotzdem hat in der Tiefe vielleicht auch der ftir einen eingefleischten ,Modernisten* ja doch merkwtirdige Prozel^ der legitimen Riickdatierung der ,Entdeckung‘ der Neuheit wenig Bedeutung, obwohl er auf jeden Fall in der Lage ist das bekannte Syndrom des Erstgeborenenrechts neu zum Vorschein zu bringen. Sei nun Agostino, oder Abelard oder Petrarca oder ein weniger bekannter Autor von Autobiografien das erste Individuum, das vollständig dem„ldealtyp“ des modernen Menschen entspricht, bleibt sich gleich: es reicht daran zu erinnern, um nur ein einziges Beispiel zu bringen, daE Figgis, hauptsächlich auf die Inhalte achtend, Marsilio aus Padua fiir moderner hält als Ockam, während im Gegenteil Villey, mit einer Wertung des methodologischen Profils als entscheidenen Faktor, Marisilio als scholastischer und Ockamals den moderneren der Beiden einschätzt. In Wirklichkeit miilke man vielmehr tiber den Ansatz und die Komplexität der Argumentation meditieren und sie aufnehmen, wie sie uns vom Gesamtkomplex dieser Studien entgegenkommt und wie sie explizit von einigen in dem Sinne thematisiert wird, der uns hier interessiert (A. J. Gurevic, J. Cl. Schmitt): vor allem ist die Geschichte des Individualismus, wenn sie denn als solche uberhaupt denkbar ist, auf gar keinen Fall eine lineare Geschichte und, auch wenn man ihr eine gewisse Einheit unterstellen könnte, wäre es iiberaus schwierig diese zu demonstrieren und in iiberzeugender Weise ihre Entwicklung zu verfolgen (... um ganz von der schon angedeuteten Unmöglichkeit zu schweigen, sie auf den blofien Okzident einzuschränken), da sie ja - vielleicht auch aus epistemologischen Grunden - weitgehend unserem Blick entflieht. Zum Zweiten ist das ,wahre‘ Problem höchstwahrscheinlich eher jenes der Persönlichkeit, jenes der Konstitution des Selbst, oder, genauer gesagt, das Problem der geschichtlichen Kontamination zwischen Natur und Kultur die sowohl die individuelle Selbstdarstellung modelliert, als auch das von mal zu mal veränderbare Konzept der verschiedenen sozialen Gemeinschaften (auch innerhalb der ,Modernität‘). Dies ist ein Problem, das von Ethnologen und Psychologen (M. Mauss, etc.) gestellt, aber von Fllstorikern (und Philosophen) weitgehend ignoriert wird. Diese beiden Letzteren haben es eben gerade mit der Geschichte des Individualismus ersetzt; eine Geschichte, also, von der ,Entdeckung‘ des Individuums, die in ihrer Substanz eine historiographische Einbildung sein könnte (wie auch eine ideologische Grundsatzerklärung, 3

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