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Peti-r Landau Juristen konnten nach 1870 die Erfahrung machen, daB sie als Gesetzgeber auf Reichsebene Macht ausiibten. Ihr Wort war sowohl bei der Vorbereitung von Gesetzen als auch bei der BeschluBfassung entscheidend, jedenfalls auf den meisten rechtspolitischen Feldern — nicht so sehr auf bereits parteipolitisch umkampften Gebieten wie dem Eherecht. Zum EinfluB der Juristen durch Beteiligung an der Gesetzgebung trat aber jetzt auch der EinfluB fiber die Rcchtsprechung, da es anders als zur Zeit des Deutschen Bundes jetzt oberste deutsche Gerichte gab. Bereits der Norddeutsche Bund, der ein einheitliches Handelsgesetzbuch vom Deutschen Bund geerbt hatte, richtete 1869 das Bundesoberhandelsgericht - später Reichsoberhandelsgericht - in Leipzig ein; dieses Gericht ging 1879 imneugegriindeten Reichsgericht auf, das nunmehr im Grunde zumerstenmal in der deutschen Geschichte eine einheitliche Spitze der deutschen Gerichtsverfassung brachte. Kann man sich dariiber wundern, daB nach 1879 die Bedeutung des Richteramts fiir die Rechtsordnung stärker als friiher betonf wurde, während vorher die Wissenschaft die Garantie fiir die Einheit der deutschen Rechtskultur iibernehmen sollte? Erst nach 1879 konnte der Gedanke einer von Richtern gesteuerten Rechtsfortbildung iiberhaupt entworfen werden; vorher fehlte dafiir der „Sitz imLeben“. Das neue deutsche Reich wurde von den zeitgenössischen Juristen jedoch auch deshalb als legitimiert zur Rechtsfortbildung angesehen, weil Recht nicht ohne Macht entstehen könne — sowohl das Gesetzesrecht als auch das Gewohnheitsrecht, das ohne die Macht der Gerichte sich nicht bilden könne. Recht ist nicht wie fiir Puchta im Kern ein Produkt der Uberzeugung, sondern der gegen den Widerstrebenden mit Zwang durchgesetzten Macht. Sehr deutlich wird dieser Gedanke 1876 in einer Kaisergeburtstagsrede des Bonner Rektors Roderick v. Stmtzing mit dem Titel „Macht und Recht“ ausgesprochen. Elier findet man nach der obligaten Reverenz vor der historischen Schule als einer „tiefsmnigen Lehre""*^ den Grundgedanken, daB Recht nur durch die Macht zur Ausiibung von Zwang entstehen könne, die der Gesetzgeber und der Richter besäBen. Sätze der Wissenschaft wiirden nur dadurch zu Rechtssätzen, daB der Richter ihnen seine Macht leihe;'**^ die Rechtsprechung entwikkele Rechtssätze, die dadurch geltendes Recht seien, daB deren Geltung auf der Ausiibung staatlicher Macht durch den Richter beruhe.'*^ Theoretische Sätze der Wissenschaft sind kein Teil des Rechts. Recht kann folglich nur Gesetzesoder Richterrecht sein, da es auf staatlicher Macht beruht. Da das neue Reich eine bis dahin in Deutschland nicht vorhandene politische Macht besitzt, ist es nach Stintzing auch zu einer „epochemachenden Bildung des Rechts berufen. 82 «50 Roderich v. Stintzing, Macht und Recht, Bonn 1876, S. 8. Stintzing, Macht (wie Anm. 47), S. 21. ■” Stintzing, Macht (wie Anm. 47), S. 15. Stintzing, Macht (wie Anm. 47), S. 33. Eine rechtshistorische Variante dieser Machttheorie des Rechts entwickelt etwa gleichzeitig August S. Schultze, Privatrecht und Prozefi in ihrer Wech-

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