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MarieSandström 176 auf eine iiberzeugende Art die Kodifikation als den letzten Ausweg in Zeiten äufiersten gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls zu beschreiben, in dem der Mangel einer lebendigen und anpassungsfähigen Systematik imRechtsstoff dutch Begriffsexerzieren abgestellt wird. Teils, und vielleicht noch wichtiger, stellte Savigny — im Gewand des römischen Rechts - eine Alternative zur Gesetzgebung als einzige Rechtsquelle dar. Die juristische Doktrin, die sich auf das Vermögen der Rechtswissenschaftler, die Kluft zwischen Zeit und Raum, zwischen Allgemeinem und Besonderem im Recht zu uberbriicken, griindet, sollte dutch ihren Einflufi auf die Rechtsbildung sowohl die rechtliche Einheit als den Schutz des Nationalen, Besonderen und Konkreten gewährleisten. In der organischen Systematik, die nur eine wissenschaftliche Methode garantieren konnte, wurden diese scheinbar entgegengesetzten Interessen in einem dialektischen Zusammenspiel vereint. Es ist offenbar, daft sich die gegenwartige Situation dem Szenarium, worin sich der Kodifikationsstreit abspielte, in hohem Grade ähnelt. Die Rechtswissenschaft steht auch heute vor derselben schicksalsschweren Wahl wie damals. Das Streben nach einer europäischen Einheit kann auf dem rechtlichen Gebiet ebensogut eine Herausforderung als auch eine schneidende Niederlage im Kampf um den rechtswissenschaftlichen Einflul? auf die Rechtsentwicklung bedeuten. Die einleitende Phase dieser Entwicklung deutet aul^erdem darauf hin, dal? die Zeit davonzulaufen beginnt. Die Gesetzgebung ist ausdriicklich ins Zentrum der Versuche der EG, die Rechtsordnungen der Mitglieds- und EWR-Staaten zu vereinheitlichen, gesetzt worden, und es scheint, als ob die Rechtswissenschaftler sich mehr oder weniger gutwillig mit der zukiinftigen Rolle von Chronisten und Kommentatoren abgefunden hätten. Trotzdem hat es, wie Savigny behauptete, keinen Zweck, von den historischen Faktoren, nationalen Eigenarten und besonderen Bediirfnissen sowohl aufierhalb als auch innerhalb der einzelnen Staaten abzusehen. Dies, wenn iiberhaupt etwas, lehrt uns die Geschichte des Rechts. Um solche notwendigen Sonderinteressen zu garantieren ist das Gesetzgebungsmittel jedoch ein stumpfes Instrument. In dem Mal?e, wie die Gesetzgebung nicht von anderen Rechtsquellen balanciert worden ist, hat sie dazu tendiert, den Zug der Allgemeingiiltigkeit und Rigidität des Rechtssystems zu verstärken, etwas, was auf die Dauer die Voraussehbarkeit und Sicherheit des Rechts eher bedroht als gestärkt hat. Diese Tendenz hat sicherlich, wie Savigny meinte, ihren Grund im besonderen Gepräge dieser Rechtsquelle; ihre Stärke sowohl als ihre Schwäche liegen in ihrem Streben nach Vereinheitlichung. Damit hat man aber nicht die Möglichkeiten, eine starkere rechtliche Einheit in Europa zu schaffen ausgeschöpft. Die Bedingungen sind im wesentlichen giinstig; die parallele Gesellschaftsentwicklung in fast ganz Westeuropa garantiert eine weitgehende Homogenität in sowohl ökonomischen als auch kulturellen Verhältnissen. Das Mittel, umdie Entwicklung in diese Spuren zu lenken, ist auch vorhanden. Durch eine rechtswissenschaftliche

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