RS 19

Rechtseinheit durch rechtsprechung? 131 Unabhängig davon, ob nun die Unzulänglichkeit des Rechtszustandes in den „ungelösten Grundfragen“ auf dem Gebiet des gemeinen Rechts bzw. römischen Rechts imSinne von Alois Brinz oder mehr in der Unbeweglichkeit und Liickenhaftigkeit der bestehenden Partikulargesetzgebung gesehen wurde, in jedem Fall war der Bedarf einheitlicher Rechtsprechung fiir unifizierende Regelbildung durch die Praxis sehr grofi. Aus diesem Grunde erhalten die Rechtsprechungssammlungen und Zeitschriften mit publizierter gerichtlicher Praxis, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts in zunehmender Zahl erscheinen, eine neue wichtige Funktion.Die Veröffentlichung des Rechtsprechungsmaterials wird zu einem unentbehrlichen Mittel, gerichtliches Gewohnheitsrecht und Präjudizien iiberhaupt erst möglich zu machen und entsprechend der von der Doktrin gebildeten Lehre zu bewerten und zu bilden. Es ist sehr interessant zu beobachten, wie die Herausgeber dieser Urteilssammlungen in wissenschaftlichen Einleitungen die Frage der unifizierenden Bindungswirkung der Urteile in Anlehnung an die von der Rechtswissenschaft entwickelte Doktrin behandelt haben. Ausgangspunkt ist auch hier die Entscheidungsgrundlage des Gerichts, nämlich hauptsächlich das Gesetz. Amausfiihrlichsten hat 1824 der Advokat und Prokurator beim Herzoglichen Oberappellationsgericht sowie Hof- und Appellationsgericht zu Wiesbaden Wilhelm von der Nahmer diesen Fragenkreis behandelt und den „Gerichtsgebrauch“ aus dem „Zweck . . . der Sammlungen von gerichtlichen Erkenntnissen“ griindlich erläutert.^** Er betont, durch die »legislative Liicke" sehe sich der Richter „wiederholt auf seine eigene Entscheidungs-Norm zuriickgewiesen. Es ist jedoch immer ein grofies Ungliick fur einen Staat, wenn seine Rechts-Gesetzgebung viele Streitfragen zuläfit."^"^ Das war die kritische Umschreibung der Rechtsquellenrealität in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. »Deshalb so fährt er fort — “mufi der Staatsbiirger wiinschen, daB der Richter eine Streitfrage nicht blofi in einem einzelnen Falle richtig entscheide. Er mufi wiinschen, daft dieser Entscheidung Consequenz gegeben, dafi sie zur bleibenden Norm in identischen Fallen werde. So entsteht das Bediirfnifi, die Nothwendigkeit eines Gerichtsgebrauchs, das BedurfnilF dafi die Landesgerichte bei Dunkelheiten oder Unvollstandigkeiten des Gesetzes die Streitfrage stets nach Einer und derselben Norm entscheiden möchten. Cf. die Ubersicht bei H. Mohnhaupt, Rechtsprechungssammlungen; Deutschland, in: F. Ranieri (ed.), Gedruckte Quellen der Rechtsprechung in Europa, 1800—1945, 1. Halbband (Rechtsprechung. Materialien und Studien 3), Frankfurt a. M. 1992, pp. 95-325; cf. dazu näher unten. W. von der Nahmer, Abhandlung iiber den Gerichtsgebrauch und iiber den Zweek, die Vortheile und Nachtheile der Sammlungen von gerichtlichen Erkenntnissen. Als Einleitung zu: Sammlung der merkwiirdigeren Entscheidungen des Flerzoglich Nassauischen OberappellationsCferichts zu Wiesbaden, ed. W. von der Nahmer, 1. Band, Frankfurt a. M. 1824, pp. 5-38; cf. dazu auch Ogorek, Richterkönig (Anm. 55), pp. 186 s. V. d. Nahmer, Abhandlung (Anm. 78), p. 9. V. d. Nahmer, Abhandlung (Anm. 78), pp. 9 s. “SO

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYyNDk=