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Heinz Mohnhaupt setzung, um der Rechtsprechung unifizierende Wirkungen und Aufgaben zuweisen zu können, war ihre Qualität als Rechtsquelle. Diese Qualität wurde namentlich im 19. Jahrhundert iiber das Rechtsinstitut des „Gewohnheitsrechts“ begriindet und zumeist unter dem Begriff des „Gerichtsgebrauchs“ oder des „Präjudiz“ diskutiert. Die Diskussion in Theorie und Praxis iiber diesen Begrundungszusammenhang zwischen Rechtsquelle und Rechtseinheit ist jedoch vorbestimmt durch die praktischen Ordnungsaufgaben und gesellschaftlichen — namentlich wirtschaftlichen — Regelungsbediirfnisse. Sie entstehen nicht nur dort, wo erstens das Gesetz fehlt, zweitens das Gesetz Liicken aufweist, drittens das Gesetz wegen unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln ausfiillungs- und konkretisierungsbediirftig ist, sondern viertens auch dort, wo ein Gesetz besteht, aber wegen des raschen Wandels von Gesellschaft, Technik, Okonomie, politischer Systeme und Wertvorstellungen^^ die neue Realität nicht mehr zu erfassen und zu beherrschen vermag. Das gilt in besonderem Mafie fiir die dynamische Epoche des 19. Jahrhunderts. Die Kluft zwischen altemGesetz und neuer Wirklichkeit fordert daher ständig die Uberbriickung durch Rechtswissenschaft und vor allem durch die Rechtsprechung. Rechtsprechung dynamisiert das Gesetz jeweils neu, um es fiir die Anforderungen des täglichen Lebens funktionsfähig zu halten. Insofern kann man auch das Juristenrecht als Teil des Gesetzesrechts bezeichnen: „Gesetz und Richterrecht fiihren nun einmal kein Eigenleben.“ Ernst Rabel sprach davon: „Ein Gesetz ist ohne die zugehörige Rechtsprechung nur wie ein Skelett ohne Muskel. Und die Nerven sind die herrschenden Lehrmeinungen.“‘’^ Ob die Gesetze solchen Aufgaben der Anpassung und Uberbriickung gewachsen waren, hing wiederum auch weitgehend von Existenz, Qualität und Sachgebiet der Gesetzgebung ab. Gesetzgebung konnte jedoch sehr viele Sachgattungen und Gesetzesarten betreffen - vom Partikularrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht bis hin zum Privatrecht. Demgemäb waren die diskutierten Meinungen und Theorieangebote zum Status und Rechtsquellenrang der Rechtsprechung beziiglich der jeweils in soziale Realität umzusetzenden Gesetze auch von deren gattungsspezifischer Eigenart und von deren Zustand geprägt. Das mufi immer bei der Beurteilung der Diskussion im 19. Jahrhundert — und auch im 20. Jahrhundert — mitbedacht werden. Je gröfier die Anforderungen an das Gesetz waren, desto problematischer waren die Aufgaben der normdurch128 Zur Allgemeingiiltigkeit dieser Beobachtung cf. den Argumentationsrahmen des NS-Rechts, in dem z. B. B. Riithers diese Feststellung trifft: Die unbegrenzte Auslegung, in: U. Davy u. a. (ed.), Nationaisozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft in Osterreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, pp. 1-17 (2). So lautet die griffige Formel bei J. Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: J. Esser und H. Thieme (ed.). Festschrift fur Fritz von Hippei zum 70. Geburtstag, Tubingen 1967, pp. 95—130 (118). E. Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1923,24), in: Gesammelte Aufsätze III, ed. H.G. Leser, Tubingen 1967, p. 4.

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