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10 Ich fasse sie hier in einem sehr allgemeinen Sinne auf, in welchemsie eine Verbindung des wissenschaftlichen Faches mit den aktuellen Fragestellungen unserer Zeit und unserer Gesellschaft bilden. Die Rechtsgeschichte hat innerhalb der Rechtswissenschaft solche Fragestellungen immer besonders deutlich gespiegelt. Wir können die Aussonderung der Rechtsgeschichte als eines eigenen Faches sogar als Folge einer Säkularisierung des Rechts, der Auflösung religiöser, metaphysischer und naturrechtlicher Rechtsbegriindungen sehen. Ein letzter solcher „Rechtsglaube” ist der des begriffsjuristischen Positivismus, der die Rechtsgeschichte als eine Entwicklung zu ,,richtigen” Rechtsbegriffen und einer auch inhaltliche Gerechtigkeit verbiirgenden Systematik dieser Begriffe und der aus ihr entspringenden Normen sah.' Im Bereich der deutschen Rechtsgeschichte ist das Gebiet des deutschen Privatrechts davon besonders gepragt. Die „Historisierung” der Rechtsgeschichte entzieht ihr auch diesen Boden, fiigt sie aber umso intensiver in das soziale Wirkungsfeld der jeweiligen historischen Gesellschaft, in deren Wertvorstellungen, geistige Vorprägungen und Mentalitäten.^ Damit mul? das Problemder Entstehung von Recht aus gesellschaftlichen Entwicklungen und Bediirfnissen und andererseits die Frage der Wirkung von Recht auf Gesellschaft, auf ihre Strukturierung, Bewahrung und Veränderung als zentrale Frage in den Vordergrund riicken.^ Anders als in philosophischen Ansätzen des 19. Jhdts. ist dabei heute davon auszugehen, dal? wir das Verhältnis von Recht und Gesellschaft (man könnte ebenso sagen: die Kultur einer Zeit) als ein Geflecht von Sozialstrukturen, Wertvorstellungen, Normen, wirtschaftlichen und herrschaftlichen Determinanten und Standards von Rationalität ansehen miissen, deren Wechselbeziehungen es wissenschaftlich aufzuhellen gilt, ohne dal? von einer theoretischen oder methodischen Vorgabe der vorgenannten Art ausgegangen werden diirfte. Das heil?t aber auch, dal? keinemwissenschaftlichen Fachgebiet ein Primat zukommt, also im konkreten Zusammenhang weder den Sozialwissenschaften im Verhältnis zur Rechtswissenschaft oder umgekehrt, weder der Sozialgeschichte imVerhältnis zur Rechtsgeschichte oder umgekehrt. Diese offene Situation bedingt auch den Verzicht, einen Primat fiir mehr theoretisch ausgerichtete Wissenschaften (etw'a die Soziologie oder Rechtstheorie) noch fur mehr empirisch ausgerichtete Wissenschaften (Sozialwissenschaften, Sozialgeschichte, Rechtsgeschichte) zu vindizieren. Wohl aber erfährt die historische Dimension insgesamt eine Aufwer- ' Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 433 f. Gerhard Dilcher, Der rechtswissenschaftliche Positivismus, in; Archiv fiir Rechts- und Sozialphilosophie, Band 61 1975,, S. 497 ff. - Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Anm. 1). Dieter Simon, Art. Rechtsgeschichte in: Axel Görlitz, Handlexikon zur Rechtswissenschalt Band 2, Hamburg 1974, S. 314 ff. Franz Wieacker, Art. Methode der Rechtsgeschichte, in: HRG Bd. 3 Sp. 518 ff. ^ Gerhard Dilcher, Einleitung, in: Sozialwissenschaften imStudium des Rechts, Bd. IV Rechtsgeschichte, Miinchen 1978, S. 3 ff.

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