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112 geworden ist”. Alles Vergangene ,,ist nicht notwendig, da es geworden ist; es wurde nicht notwendig dadurch, dafi es wurde (ein Widerspruch), und wird noch weniger notwendig dutch das Verstehen von irgend jemand”.^^ Von diesen Feststellungen Kierkegaards fuhrt ein direkter Weg zu Nietzsches Definition der Geschichtswissenschaft als der Wissenschaft des universalen Werdens, die dem Leben keine festen Orientierungen bieten kann. Auch Ernst Troeltsch hat in seinem Historismus-Buch von 1922 unter wiederholtemHinweis auf Kierkegaard das Thema des ,,Sprungs” erörtert, „durch den wir in eigener Entscheidung und Verantwortung aus der Vergangenheit in die Zukunft gelangen”; „der Sprung bleibt das Entscheidende”, wenn das Ziel darin besteht, eine ,,gewissenhaft erwogene, freie Synthese aller lebendigen Kulturkräfte” zu erstellen.^^ In seinem Essay iiber ,Die Wissenschaftskrisis. Zu den grundsätzlichen Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs’ von 1923 hat Siegfried Kracauer jedoch treffend bemerkt, dal5 Troeltsch .,den Sprung in Wahrheit gar nicht vollfiihrt. Kierkegaard, sein Kronzeuge, springt wirklich; ohne wie Troeltsch dutch ,wissenschaftlich-historische Selbstbesinnung’ seiner Intuition ,innere objektive Notwendigkeit’ sichern zu wollen, entschliefit er sich dazu, die Paradoxie, dafi das Ewige einmal in die Zeit eingetreten ist, gerade um ihrer Absurdität willen anzunehmen, und springt so freilich mitten in das Absolute hinein. Damit hat er aber den archimedischen Punkt aufierhalb des historischen Prozesses gefunden, und nichts brächte ihn mehr dazu, gleich Troeltsch das ergriffene Absolute wieder in die Geschichte einzusenken, um es derart von neuem zu relativieren”.^* Troeltsch sei, wie Kracauer nicht ohne Ironie feststellt, gewissermafien „nur so ein wenig” gesprungen, umdann ,,mit Hilfe der gliicklich ersprungenen Wertmaftstäbe jene selbe geschichtsphilosophische Spekulation wieder aufzunehmen, der er gerade dutch seinen Sprung entkommen wollte”. Troeltsch habe beides gewollt: „Aus dem Relativismus herausspringen und zugleich als Wissenschaftler im Bedingten verharren und Geschichte treiben”. Es sei ihm dabei aber entgangen, „da(? mit demEintritt in die Beziehung zum Absoluten sofort der Historismus unmöglich wird, und daft umgekehrt dort, wo dieser statthat, sich unweigerlich der Zugang zumAbsoluten verschliefit”. Das habe Troeltsch schliefilich zu dem ,,leidigen Kompromifi” gefiihrt, ,,Wertmaf5stäben und Kultursynthesen, die aus der Geschichte herausgeholt und in die Geschichte eingebettet werden, nur um ihres stattlicheren Aussehens willen hinterher noch eine absolute Bedeutung anzuschminken”.^^ Eben diesen leidigen Kompromifi aber habe Max Weber abgelehnt: ,,Der Sprung zumAbsoluten, so urteilt er (sc. Weber), hierin tiefer, weil S. Kierkegaard, Philosophische Brocken (1844), hg. von L. Richter (1967), S. 5, 68 1., 72. Troeltsch, Historismus, S. 178 f. S. Kracauer, Die Wissenschaftskrisis. Zu den grundsätzlichen Schriften Ma.\ Webers und Ernst Troeltschs (1923), in; ders.. Das Ornament der Masse (1977), S. 197 ff., hier S. 202. Ebd. S. 202 f.

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