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28 nikanische" Wende in der Philosophic - fiihrte demnach zur Auflösung der Wesenseinheit. Angesichts der reflexionsphilosophischen Vernunft wurde die Objektseite der Erkenntnis dazu begrenzt, nur von reiner Erfahrungserkenntnis dargestellt zu werden. Die explizite Zielsetzung war jedoch, mit der Kritik der reinen Vernunft einen unerschutterlichen, wissenschaftlichen Grund fiir die Metaphysik zu konstruieren — eine Absicht, die direkt gegen das empiristische Erkenntnisideal gerichtet war. Das enzyklopädische Notwendigkeitskriterium—die empirische Vollständigkeit - stellte, nach Kants Auffassung, eine unerreichbare Illusion dar. Stattdessen setzte der Wissenschaftscharakter der Metaphysik voraus, daft alle Erfahrungserkenntnis aus dem Gebiet der Disziplin beseitigt wurde - die Metaphysik mufite aufgefafit werden als „eine ganz isolirte speculative Vernunftserkenntnift, die sich gänzlich fiber Erfahrungsbelehrung erhebt“. Der philosophisch notwendige Grund fiir die Metaphysik sollte folglich einen Schutz darstellen gegen die offensichtlichste Konsequenz des Empirismus, das Ubergewicht des Stoffes, das das eigentliche Kriteriumder wissenschaftlichen Formbedrohte - nämlich die Einheit der Erkenntnis. Die empirische Erkenntnis, der Stoff, war ein uniibersehbares Chaos, dem nur durch Vernunftsbearbeitung ein Notwendigkeitscharakter verliehen werden konnte. Auch zwischen der einheitschaffenden Kraft der Vernunft und dem Stoff herrschte durch diese Bestimmung des Begriffes „Stoff“ ein gewisser Antagonismus; entweder war die Vernunft in der Lage, ihren Stoff zu beherrschen und ihn der Form der Erkenntnis aufzuzwingen — oder, und dies befiirchtete Kant, die Bestimmung der Erkenntnis wurde in der Vielfalt der Erfahrungserkenntnis verlorengehen. Die durch Kant emanzipierte Vernunft glaubte jedoch, dafi es ihr gelungen sei, eine Relation zu konstruieren, die die transzendentalphilosophische Forderung, daft die Formder Erkenntnis die Fiille des Stoffes kontrollieren können sollte, erfiillte. Diese Relation konnte nur durch die einheitschaffende Kraft hergestellt werden, durch die der Stoff völlig der wissenschaftlichen Bestimmung unterworfen wurde; oder mit Kants Worten: der Relation, die in dem System, „worin alles Organ ist“, Einheit schafft. Die kantianische Vernunft blieb wegen dieser Bestimmung der Erkenntnisrelation bei einer allein formellen Behandlung des Stoffes stehen. Die materielle Systematik, die in der Lage wäre, die wiinschenswerte absolute Einheit in der Erkenntnis zu schaffen, setzt offenbar einen Vernunftsstandpunkt voraus, der die Verstandesstufe der kantianischen Form-Stoff-Relation iiberschreitet. Weil die Vernunft eine wirkliche Emanzipation von der Tyrannei der Fiille erreichen sollte, mufite der Stoff als eine materielle Systemeinheit qualifiziert werden. Dieses konnte, vomAusgangspunkt der kopernikanischen Wende her gesehen, nur durch die Konstruktion einer absoluten Einheit in der Erkenntnis geschehen.

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