RSK 4

Im Rückspiegel der Geschichte wird das Streben unzähliger Generationen, die Wahrheiten ihrer Zeit in Begriffe zu fassen, zum langen und mühsamen Wege einer überpersönlichen Vernunft in Richtung auf die Wahrheit hin. Das Studium der Geschichte der menschlichen Kultur muß damit von einem Bestreben, den Menschen selbst kennen zu lernen, gesteuert werden, den Menschen nicht als ein einzelnes Individuum, sondern als ein rastlos suchendes, vermutendes und verwerfendes Subjekt der Erkenntnis. So wie der Betrachter ein Individuum kennen lernen kann, indem er ihm von der Wiege bis zum Grabe folgt, kann der Geschichtsinteressierte der erkenntnissuchenden Menschheit durch die Zeitläufe folgen. Wie ein Wanderer in einem gigantischen Labyrinth bahnt sich die menschliche Vernunft ihren Weg durch die Geschichte. Dieser Weg ist kurvenreich und voller Gefahren: Manchmal gelingt es der Vernunft, einen neuen und vielversprechenden Pfad zu finden, manchmal endet die Reise in einer Sackgasse. Auf dem Weg in Richtung auf das verheißungsvolle Ziel bildet jeder Fortschritt einen Ruhepunkt, eine Möglichkeit für das Subjekt der Erkenntnis, einen Augenblick lang die Aussicht auf die zurückgelegte Strecke zu genießen. Irrtümer haben einen ganz anderen Effekt auf die Vernunft: Intellektuelle Fehlleistungen scheinen, sobald sie entlarvt sind, hochoktanigen Treibstoff für neue Versuche, das Ziel zu erreichten, zu sein. Wenn ein Irrtum entdeckt wird, wird die Vernunft gezwungen, ihre Annahmen kritisch zu bewerten und zu revidieren. Die revolutionären Sprünge des menschlichen Denkens auf dem Weg der Vernunft zu wahrer Erkenntnis geschehen an diesem Punkte. Ein anschauliches Beispiel für dieses Phänomen ist Immanuel Kants kopernikanische Wendung 2. Immanuel Kant war in der Modephilosophie seiner Zeit, der dogmatischen Methode der Christian Wolffs und der sogenannten Schul170

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYyNDk=