RSK 4

Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration Institutet för Rättshistorisk Forskning . Olin Foundation . Grundat av Gustav och Carin Olin

Serien III Rättshistoriska Skrifter Fjärde Bandet     ,                GC

Kjell Å Modéer  Pablo Sandoval  åtta.45 tryckeri AB    -  --    -

Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration            

Heinz Mohnhaupt von seinen skandinavischen Kollegen gewidmet

  Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration. Kulturelle Bedingungen europäischer Rechtseinheit und vergleichende Beobachtungen     Nordisches Wirtschaftsrecht     Vergleichende Betrachtungen über die mittelalterliche Ehegüterrecht im dänischen und nordeuropäischen Familienrecht    Rechtsstaat als Kriterium für Europa  -  Der Verlierer als Sieger? Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung - ein neuer Schulstreit      Legal Culture and World Value Mapping        

Die Uppsala Schule und die Politisierung der Rechtswissenschaft    Axel Hägerström und der Realismus. Ein Beitrag zur Geschichte der Irrtümer      Montesquieus “Geist der Gesetze” und dänische Aufklärung      

Am. September  war Heinz Mohnhaupt als Gastvorleser an der Juristischen Fakultät der Universität Lund eingeladen. Er hatte schon vor Jahren eine offene Einladung der Fakultät erhalten, aber wie alle, die Heinz Mohnhaupt kennen, bestätigen werden, hatte sein Amt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt/Main seine Zeit völlig absorbiert. Ab . Juli dieses Jahres sollte jedoch alles besser werden, sagte er, und der Termin für seine Gastvorlesung wurde festgesetzt. Als Thema seiner Vorlesung wählte Heinz Mohnhaupt Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration. Kulturelle Bedingungen europäischer Rechtseinheit und vergleichende Beobachtungen. Was Heinz Mohnhaupt und seine Frau Traudel nicht wußten, als sie an diesem sonnigen nordischen Spätsommertag vom Flughafen in Kopenhagen über die damals ganz neue Öresundsbrücke nach Schweden fuhren, war, daß in Lund die skandinavischen Rechtshistorikerinnen und Rechts-historiker warteten, um ihn zu begrüßen und ihn mit einem wissenschaftlichen Symposium zu ehren. 13         

Am Abend den . September hielt Heinz Mohnhaupt an der juristischen Fakultät seine in diesem Band veröffentlichte Vorlesung, und am folgenden Tag fand im alten Bischofshaus in Lund das von der Olin-Stiftung für Rechtsgeschichte veranstaltete Symposium statt. Dieser Band enthält die Vorträge, die bei diesem Symposium gehalten wurden. Die engen wissenschaftlichen Kontakte zwischen den Forschern am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte und den nordischen Rechtshistorikerinnen und Rechtshistorikern müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. In diesem Netzwerk spielte Heinz Mohnhaupt eine zentrale Rolle. Seit Jahrzehnten ist er sozusagen unser Botschafter am Institut. Mehrere nordische Rechtshistoriker haben ihn am Institut als ihren Mentor betrachtet. Mehr als  Jahre war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut tätig. Fortlaufend lieferte er wichtige Beiträge zu den aktuellen europäischen rechtshistorischen Diskursen, und viele seiner Arbeiten haben ihren Schwerpunkt in der vergleichenden Rechtsgeschichte. Mehrere seiner Aufsätze wurden in einem Sammelband, Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht (Ius Commune, Sonderheft , V. Klostermann Frankfurt/M. ) publiziert. Heinz Mohnhaupt ist also seit vielen Jahren in Frankfurt einer der wichtigsten Gesprächspartner der nordischen Rechtshistoriker, von der gegenwärtigen Seniorengeneration bis zum jüngsten Doktorandenkreis. Das Thema der Gastvorlesung Heinz Mohnhaupts über Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integrationwar deshalb auch Thema des Symposiums. Die Beiträge sämtlicher Vortragenden behandeln Themen, die von einem rechtstheoretischen oder forschungspolitischen, rechtspolitischen oder methodologischen Gesichtspunkt aus betrachtet aktuell sind - Themen, von denen die Verfasser wußten, daß sie Heinz Mohnhaupt interessieren und engagieren würden. 14

In diesem Sinne - gewissermaßen als ein Strauss Spätsommerblumen, überreicht von den Kolleginnen und Kollegen aus dem hohen Norden - sei der vorliegende Sammelband Heinz Mohnhaupt in Dankbarkeit gewidmet.     Kjell Å Modéer 15

Das Recht als wichtigste normative Ordnungskategorie in der europäischen Geschichte kann - jenseits aller aktuellen Fragestellungen - immer auch gesehen und gelesen werden unter dem Aspekt von Einheitlichkeit und Vielfalt seiner Regelungen und seiner Geltungsweite. Dahinter 17 Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration. Heinz Mohnhaupt       * I * Es handelt sich um einen Vortrag, den ich auf Einladung von Prof. Dr. Kjell Å. Modéer auf dem Symposion “Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration. Kulturelle Bedingungen und vergleichende Beobachtungen” am 29. September 2000 an der Universsität Lund gehalten habe. Ich danke dem Freund Kjell Å. Modéer sowie allen an diesem Symposion beteiligten skandinavischen Rechtshistorikerinnen und Rechtshistorikern sehr herzlich für ihre Teilnahme an dieser für mich so ehrenvollen Tagung und für die Freundschaft, die sie mir auf unvergeßliche Weise bekundet haben.

verbergen sich unterschiedliche Modelle der Rechtsgestaltung, die den Kreis der Rechtsgeltung entweder allgemein und territorial umfassend oder individuell und regional bzw. lokal beschränkend anlegen. Einheitlichkeit und Vielfalt der Regelungsformen in Gestalt der generalisierenden (Gesetz) oder individualisierenden Norm (Privileg) können auch unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien repräsentieren. Bereits in der Rechtsquellenlehre und -praxis des römischen Rechts wird dieses Spannungsverhältnis zwischen generellem undspeziellemRecht durchdieDichotomie “ius commune/generale” und “ius particulare/speciale” bezeichnet und erfaßt. Es gehört zum empirischen Befund europäischer Rechts- und Verfassungsgeschichte, daß die Wirkungskraft der individuellen Rechtsstrukturen und kleinräumigen Rechtsgeltungsdichte aus einer Opposition zum Zentralismus und zu generalisierender Rechtsvereinheitlichung entstanden ist. So kann man auch von einer Dialektik von Vereinigungsund Vereinzelungsbestrebungen in der Geschichte des europäischen Rechts sprechen. Der Tendenz zur Rechtseinheit steht immer eine Tendenz zur Rechtsvielfalt gegenüber. Rechtseinheit dient der Zentralisierung von staatlicher Macht, wirtschaftlicher Effektivität und der Kalkulierbarkeit der Rechtsentscheidung und Normdurchsetzung. Rechtspartikularismus und Rechtsquellenpluralismus sind Ausdruck kultureller Eigenart und dienen der Bewahrung regionaler Identität. In Phasen rechtlicher und staatlicher Vereinheitlichungen und Einheitsbewegungen kollidieren diese mit den gegenläufigen Gestaltungsprinzipien, die ihrerseits auf Vielfalt und Differenzierung der Lebenswelten und des Rechts beruhen. Die Soziologie begreift diese Prozesse unter den Begriffen der “Integration” als Zusammenschluß von Teilen zu einer neuen Ganzheit und der “Desintegration” als Zerfall einer Ganzheit oder auch einer Ausgliederung von Teilen aus bestehenden geschlossenen Sozialgebilden. Die wiedergewonnene deutsche Staats- und Rechtseinheit sowie das 18

Auseinanderfallen der Sowjetunion und die Trennung der ehemaligen Tschechoslowakei in die selbständigen Staaten Tschechien und Slowakei bilden Beispiele für die jüngsten integrativen und desintegrativen Entwicklungen in Europa. Prozesse dieser Art beruhen nur vordergründig auf einem staatsorganisatorischen Rechtsakt. Sie sind vielmehr durch tiefer liegende psychologische, kulturelle und historische Tatbestände und gespeicherte Langzeiterfahrungen bedingt. Das Recht selber ist Ausdruck dieser außerrechtlichen Bedingungszusammenhänge und hat deshalb auch seinerseits auf diese beim europäischen Einigungsprozeß Rücksicht zu nehmen, wenn die rechtstechnokratischen Vereinigungsakte nicht Gefahr laufen sollen, substanzlos ins Leere zu laufen. Das Thema ist nicht neu und auch von mir schon in einigen Anläufen umkreist und auf Wunsch des Veranstalters für das Symposion wieder aufgenommen und variiert worden.1 Dazu fordert in der Tat der schwierige aktuelle europäische politische und rechtliche Einigungsprozeß angesichts seiner historischen Dimension heraus. Er zeigt sich heute als ein Prozeß, der in seinen verschiedenen Teilbereichen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit abläuft. Im Bereich von Wirtschaft, Finanzen und Politik ist er noch am weitesten vorangeschritten. Das Recht zieht nach und versucht seinerseits die europäische Gemeinschaft vorwärts zu treiben, ohne dabei jedoch die 19 1 Heinz Mohnhaupt, Zum Verhältnis von Region und “ius particulare” in Europa während des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: L’Europa e le sue regioni, a cura di Enzo Sciacca, Palermo 1993, S. 226-238; derselbe, “Europa” und “ius publicum” im 17. und 18. Jahrhundert, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte. Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geburtstag (Ius Commune, Sonderheft 17), hg. von Christoph Bergfeld u.a., Frankfurt am Main 1982, S. 207-232; derselbe, Europäische Rechtsgeschichte und europäische Einigung. Historische Beobachtungen zu Einheitlichkeit und Vielfalt des Rechts und der Rechtsentwicklungen in Europa, in: Recht-IdeeGeschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 80. Geburtstages, hg. von Heiner Lück und Bernd Schildt, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 657-679; auf diese Beiträge wird auch im Folgenden mehrfach bezug genommen.

Dynamik der Wirtschaft zu erreichen. Die nationalen Rechtsordnungen in Europa kennen Annäherungen und auch vereinheitlichende europäische Normierungen in der Gestalt von gemeineuropäischem Privatrecht, Gemeinschaftsprivatrecht und Konventionsprivatrecht.2 Der jüngste “Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union” konkretisiert z.B. europäische verfassungsrechtliche Grundsätze für den Bereich des öffentlichen Rechts. Im Zuge der jüngsten Anpassungen müssen allein in Deutschland im Zusammenhang mit der Einführung des Euro ungefähr Gesetze geändert werden, die Verfassungs-, Währungs- und Steuerrecht betreffen, aber auch in zentrale Bereiche des Privatrechts eingreifen.3 Von einer Rechtseinheit kann noch keine Rede sein. Diese ist jedoch das erklärte und vernünftige Ziel der Politik, die immer wieder juristische Beratung, Vorschläge und Legitimationshilfen von Wissenschaft und Forschung anmahnt. Die Realisierung der politischen Zielvorgabe ist jedoch nicht nur vom politischen Willen, sondern auch von rechtssoziologischen und vor allem rechtshistorischen Tatbeständen abhängig sowie von Befindlichkeiten, die sich auch objektiv in gewachsenen Institutionen und subjektiv in Mentalitäten niedergeschlagen. Jeder Staat, jedes Recht, jede Gesellschaft ist ein Gefangener und ein Produkt der Geschichte. Traditionen wirken weiter, selbst wenn sich das Umfeld ihrer Entstehung verändert hat. Immer kann man Beharrungskräfte des Rechts beobachten - in der Rechtsdogmatik, Begriffssprache, im Juristenprofil. Sie geben dem 20 2 Vgl. Martin Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts. Eine Untersuchung nationaler Ansätze unter Berücksichtigung des italienischen und des deutschen Rechts (Heidelberger rechtsvergleichende und wirtschaftliche Studien 26), Heidelberg 1998, S. 62-94; unter historischer Perspektive: Klaus Luig, Das Forschungsfeld der europäischen Privatrechtsgeschichte, in: Walther Hadding (Hg.), Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935, Berlin/New York 1999, S. 401-418. 3 So Wolfgang Wiegand, Europäisierung, Globalisierung und/oder Amerikanisierung des Rechts?, in: Karel V. Maly a Pio Caroni (ed.), Kodifikace a dekodifikace soukromého práva v dnešním právním vývoji - Kodifikation und Dekodifikation des Privatrechts in der heutigen Rechtsentwicklung, Praha 1998, S. 218.

Recht eine konservative Note, die einen Vorzug darin besitzt, daß siekulturelle Identität zu bewahren vermag.4 Das progressive Gegenstück besteht in der abrupten revolutionären oder weichen reformerischen Veränderung, deren Gelingen davon abhängt, ob der historische Bedingungsrahmen ausreichend berücksichtigt ist. Faktoren dieser Art werden heute gemeinhin unter dem wenig präzisen - jedoch unvermeidbaren - Begriff der “Rechtskultur” zusammengefaßt.5 Diese wird als identitätsstiftendes oder ausgrenzendes Element benutzt, wenn es darum geht, die Dimension möglicher Rechtseinheit zu bestimmen. Selbst die europäischen Gemeinschaftsverträge sind - wie das Bundesverfassungsgericht betont hat - “auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen”.6 Hier ist die Rechtsgeschichte gefordert, zumal wenn sie sich als eine europäische versteht. Ihre Aufgabe kann nicht sein, Rezepte für Rechtseinheit zu liefern, sondern das Bewußtsein von einer Einheitlichkeit europäischer Rechtskultur7 und zugleich von der Vielfalt europäischer Rechtskulturen zu schaffen und zu schärfen, 21 4 Vgl. Bernhard Großfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, Tübingen 1984, S. 8486. 5 Zu den zusammenfassenden Definitionsversuchen und Analysen von “Rechtskultur” vgl. z.B. Kjell Å Modéer, Global and National Legal Cultures, in: Globalization and its Impact - on Chinese and Swedish Society, ed. Cecilia Lindquist, Stockholm 1999, S. 275-291 (277 f.); Richard A. Posner, Cultural Studies and the Law, inRaritan: A Quarterly Review, Rutgers University/New Jersey 1999, S. 42-53, zu Paul Kahn, The Cultural Study of the Law; Jerzy Wróblewski, Legal culture and axiology of law-making, in: Heinz Schäffer (Hg.), Gesetzgebung und Rechtskultur. Internationales Symposion Salzburg 1986, Wien 1987, S. 11-23; Franz Wieacker, Grundlagen der Rechtskultur, in: Tradition and progress in modern legal cultures, ed. Stig Jørgensen, in: ARSP Beiheft 23, Stuttgart 1985, S. 176-190; Vladimir A. Tumanov, Grundlagen der Rechtskultur, ebenda, S. 172-175. 6 Beschluß vom 8. April 1987, in: BVerfGE75 (1988), S. 243. 7 Peter Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie,in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch Europäische Integration, Opladen 1996, S. 55; Reinhard Zimmermann, Das römisch-kanonische ius commune als Grundlage europäischer Rechtseinheit, in: JZ 1992, S. 9. In diesem Sinne sehen unter anderem auch die Herausgeber der “Zeitschrift für Europäisches Privatrecht” Aufgabe und Zweck dieser Zeitschriftgründung darin, “das Bewußtsein für die europäischen Gemeinsamkeiten im Privatrecht über die sprachlichen und staatlichen Grenzen hinweg zu stärken ...”; vgl. Editorial, in: ZEuP 1 (1993), S. 2.

umMöglichkeiten und Grenzen für Rechtsvereinheitlichung erkennbar zu machen. Es ist nicht zu verkennen, daß Einheit und Vielfalt des Rechts, der Rechtsquellen und damit auch der Rechtskulturen in Europa historisch gesehen nie eine Gestaltungsalternative darstellten, sondern sich vielfältig überlagerten oder nebeneinander bestanden im Sinne einer “Mehrebenenstruktur”, wie sie heute zur Kennzeichnung föderativer Verfassungsebenen in Staat und Gesellschaft gebräuchlich ist.8 Der gemeinsamen Ebene des mittelalterlichen römisch-kanonischen Rechts in Europa war eine Ebene partikularer Rechte vorgelagert. Ähnlich hatte die Ebene monarchisch zentralisierter Entscheidungsinstanzen im ständisch gegliederten Staat oft die untere Ebene der kleineren ständischen Verfassungseinheiten zu beachten oder gar mit ihr zu kooperieren. Die europäische Privatrechts- und Verfassungsgeschichte spiegelt diesen empirischen Befund vielfach wieder. Allgemeinkulturelle wie auch rechtskulturelle Eigenart und Mentalität kann sich auf unterschiedlichen Ebenen als unterschiedliche Form zur Bewahrung von Identitäten erweisen. Die Chancen zur Gestaltung eines einheitlichen Europas als großräumiger Staatenverband sind somit auch davon abhängig, ob es gelingt, die Einbindung der Einzelstaaten in das übergeordnete Staatsgebilde mit einer ihre Identität bewahrenden Selbstbestimmung in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen.9 Das eingangs angesprochene historische Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Vielgestaltigkeit bzw. von Vereinheitlichung und Differenzierung des Rechts begleitet diesen europäischen Einigungsprozeß. Die “Déclaration de Bordeaux” von  hat diesen Gedanken als ein generelles Prinzip zur Bewahrung kultureller Identität im Verhältnis 22 8 Vgl. Fritz W. Scharpf, Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?, Frankfurt am Main 1999; Rüdiger Voigt, Des Staates neue Kleider. Entwicklungslinien moderner Staatlichkeit, BadenBaden 1996, S. 194; Renate Mayntz, Föderalismus und die Gesellschaft der Gegenwart, in: AöR 115 (1990), S. 235. 9 Mohnhaupt, Region und “ius particulare” in Europa (wie Anm. 1), S. 228 f.

zwischen Region und Union zum Ausdruck gebracht, daß nämlich das Recht eines jeden Europäers auf seine Region “est un des éléments de son droit à la difference ... La régionalisation ne favorise pas seulement l´Union dans la diversité, elle est aussi l´une des conditions de l´Union européenne elle-même.”10 Nicht anders betont auch der jüngste “ Entwurf der Charta der Grundrechte der europäischen Union” vom Jahrein der Präambel, daß die Union zur Entwicklung gemeinsamer Werte “unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene” beiträgt.11 Der Entwurf der Charta bekräftigt ausdrücklich das Subsidiaritätsprinzipund die “Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ... ergeben.” 12 Wenn Recht als ein Kulturphänomen begriffen wird, das sich speziell in Rechtskultur bzw. Rechtskulturen manifestiert, so hat auch die Rechtsvereinheitlichung auf den beiden Ebenen von Union und Mitgliedstaat Unifizierung und Differenzierung der Rechtsordnungen historisch reflektiert gegeneinander abzuwägen. Einheitlichkeit und Vielfalt bilden insoweit keine Gestaltungsalternativen, sondern auf verschiedenen Ebenen einander korrespondierende komplementäre Prinzipien. Der Vertrag von Maastricht hat in Art.  Abs.  unter dem Titel IX “Kultur” und der Amsterdamer Vertrag in der Fassung vom .. in Art.  Abs.  gleichfalls unter dem Titel XII “Kultur” dieses Prinzip auf die Formel gebracht: “Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger 23 10 Erklärung des Conseil de l´Europe, Assemblée parlamentaire (30.1.-1.2. 1978), hier zitiert nach Hans Maier, Föderalismus - Ursprünge und Wandlung, in: AöR115 (1990), S. 228 (Fn. 37). 11 Präambel des “Entwurf der Charta der Grundrechte ...” (2000), 3., hier zitiert nach “Frankfurter Allgemeine Zeitung” (FAZ) vom 7. August 2000, S. 12. 12 Präambel, 5. (wie Anm. 11).

Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.13 Das “gemeinsame kulturelle Erbe” und “gemeinsame Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten” umfassen auch das jeweilige rechtskulturelle Erbe im Sinne der bezeichneten “nationalen und regionalen Vielfalt”. Europäische Rechtsvereinheitlichung auf eine Europäisierung des Bewußtseins gründen zu helfen, das sich wiederum aus einer gemeinsamen europäischen Rechtsgeschichte und Rechtskultur speist, begegnet manchen definitorischen und methodischen Schwierigkeiten. Weder ist der Rechtsraum “Europa” eindeutig abgrenzbar, noch der Begriff “Recht” universal definitionsfähig; auch “Rechtskultur” ist nicht klar bestimmbar. Einerseits fehlt ein gültiger interkultureller Begriff von “Recht”,14 andererseits zerfließt der “Kultur”- Begriff zunehmend zur inhaltsarmen Hülse. Schon Josef Kohler bekannte: “Das Wort Kultur ist ein blosser Schall, wenn man nicht die einzelnen Arten der Kultur kennt.”15 Paolo Grossi problematisierte den Kulturbegriff in Bezug auf die Literaturgattung der juristischen Zeitschriften mit der bezeichnenden Frage: “Culture, en quel sens? Aujourd’hui que nous croyons, plus que jamais, à l’historicité du savoir juridique, de quelle culture font preuve ceux qui écrivent ...?”16 24 II 13 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in der Fassung vom 2.10.1997, in: Europa-Recht, Verträge zur Gründung der europäischen Gemeinschaften, 16. Aufl., München 1999, S. 80; vgl. auch Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, in: derselbe, Europäische Rechtskultur. Versuch einer Annäherung in zwölf Schritten, Baden-Baden 1994, S. 26. 14 Vgl. Großfeld, Macht und Ohnmacht (Anm. 4), S. 26 f. 15 Josef Kohler, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, in: ARSP1 (1907/1908), S. 195. 16 Hier zitiert nach André-Jean Arnaud, La culture des revues juridiques françaises, in: Biblioteca: Per la storia del pensiero giuridico moderno29, ed. Paolo Grossi, Milano 1988, S. 3; vgl. auch Paolo Grossi, La “cultura” delle riviste giuridiche italiane, in: Biblioteca: Per la storia del pensiero giuridico moderno13, ed. Paolo Grossi, Milano 1984, S. 3-8.

Überblickt man die heutige Begriffsverwendung, so erscheint “Kultur” seiner positiven Konnotation i.S. der “Kultiviertheit” weitgehend entkleidet: “Naturwissenschaft als Kultur” i. S. der “Kultur der wissenschaftlichen Objektivität”,17 das staatliche Gewaltmonopol als “eine politische Kultur des Tötens” und die “neue Art europäischer Gewaltkultur”18 sind dafür unterschiedliche Beispiele. Die moderne Wissenschaftstheorie betont, daß Erkenntnisfortschritt auf die Formulierung ungelöster Probleme angewiesen ist und fordert eine “Problem-Kultur” i. S. einer neuen “Frage-Kultur.”19 Dahrendorf sieht in der “politischen Klasse” bzw. Elite die Voraussetzung für “politische Kultur”, ohne die keine verläßlichen Institutionen denkbar sind.20 Religion als “Deutungskultur”21 und “Konfliktkultur”22 als Befriedungstechnik bezeichnen Interpretationsziele und Verrechtlichungsprozesse. Bereits diese kleine Beispielsübersicht zeigt, wie konturlos der erweiterte “Kultur”-Begriff zu einem Sammelbegriff für alles vom Menschen Geschaffene ausgeufert ist. “Kultur” repräsentiert die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich ihrer Werthaltungen und habituellen Gewohnheiten.23 25 17 So Lorraine Daston, Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit-Gegensatz-Komplementarität?(Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Band 6), Göttingen 1998, S. 17. 18 So Wolfgang Reinhard, “Staat machen”. Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1998, S. 115 und S. 113; inzwischen wird auch schon von einer “Kultur des Mordens” gesprochen: Joseph Croitoru, Der Beschuldigte, in: FAZ vom 21. Juni 2001, S. 46. 19 So Gerhard Vollmer, Faszination durch ungelöste Probleme, in: Mitteilungen der Alexander von Humboldt-Stiftung, Nr. 74, Dezember 1999, S. 17-26 (20-22); vgl. auch Wolfgang Frühwald, Zeit der Wissenschaft. Forschungskultur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Köln 1997. 20 Vgl. Ralf Dahrendorf, Die Quadratur des Zirkels. Wie entsteht politische Kultur?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitungvom 9. März 1990, S. 33. 21 Vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch, München 1988, Einleitung. 22 Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Rezeption in der Spätphase des Alten Reiches (Historische Forschungen 64), Berlin 1999, S. 26. 23 Vgl. Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., hg. von Wilhelm Bernsdorf, Stuttgart 1969, S. 598 ff.

Dieser höchst vielgestaltige und vor allem “wandlungsfähige” Begriff “Kultur”24 hat auch die ursprüngliche Grenze zum Zivilisationsbegriff verschoben und weitgehend aufgehoben.25 Angesichts eines solchen umfassenden Kulturbegriffs, für den Bell die einleuchtende Definition “continual process sustaining identity”gebraucht,26 stellt sich die Frage, inwieweit alle Hervorbringungen des Menschen auf seinem gestalterischen Willen beruhen, oder doch auch von vielfachen externen Milieu-Bedingungen abhängig sind. Rechtsanthropologie und Rechtsethnologie haben deshalb die Frage nach einer Einheit der Rechtskultur innerhalb oder neben einer Vielheit von Rechtskulturen sowie die Möglichkeit einer logischen und schlüssigen Beantwortung dieser Frage als höchst problematisch angesehen.27 Pierre Legrand hat z. B. aus rechtsorganisatorischer Betrachtung eine genuin europäische Rechtskultur schlichtweg verneint, denn die nationalen Rechtssysteme “are not converging”.28 Die “europäische Rechtsgeschichte” hat es jedoch bei der Behandlung einer solchen Fragestellung etwas einfacher, da sie auf ein breites Fundament empirischen rechtshistorischen Stoffes zurückgreifen kann. Es ist heute ganz selbstverständlich geworden, Recht als einen Teil “der” Kultur oder jeweils “unserer Kultur” zu begreifen. Recht ist ein Kulturfaktor ersten Ranges. “Recht” und “Kultur” treten begrifflich in eine enge Beziehung. Josef Kohler erklärt : “Jedes Kulturleben 26 24 Lawrence A. Scaff, Max Webers Begriff der Kultur, in: Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner (u.a.), Frankfurt am Main 1994, S. 678 f. 25 Vgl. dazu Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt am Main 1980, S. 2 f. 26 D. Bell, The Cultural Contradictions of Capitalism, New-York 1978, S. 36; vgl. auch Scaff, Webers Begriff der Kultur (Anm. 24), S. 678. 27 Vgl. Rüdiger Schott, Die Einheit der Rechtskultur in der Vielheit der Rechtskulturen, in: Beiträge zur Rechtsanthropologie, hg. Von Ernst-Joachim Lampe (ARSP, Beiheft 22), Stuttgart 1995, S. 167. 28 Pierre Legrand, European Legal Systems are not Converging, in: International and Comparative Law Quaterly 45 (1996), S. 52-87; vgl. auch Modéer, Legal Cultures (Anm. 5), S. 281 f.; Rüdiger Voigt, Von der Romanisierung zur Globalisierung? Zur Entwicklung der westlichen Rechtskultur, in: derselbe (Hg.), Evolution des Rechts (Schriftenreihe zur Rechtspolito-logie 7), BadenBaden 1998, S. 119.

hat ein besonderes Recht, und jedes Recht wieder sein besonderes Kulturleben ...”.29 Insofern wird heute “Rechtsgeschichte” folgerichtig auch als “ein kulturhistorischer Grundriss” geschrieben.30 Dahinter steht die Überzeugung, daß “Kultur” und mit ihr der Teilbereich “Recht” nicht mehr nur in der engen Begrenzung einer nationalen Perspektive gesehen und erklärt werden kann, sondern in einer grenz- wie auch disziplinüberschreitenden “integrativen historischen” Betrachtungsweise31 zu behandeln ist. Daraus folgt notwendigerweise die Aufgabe, das Recht in der Geschichte auch in seinem Verhältnis zu anderen Rechtskulturen vergleichend zu betrachten.32 In bezug auf den europäischen Kulturraum sprach hier Claude Lévi-Strauss von einer “coalition de cultures”.33 So ist der Blick auf die Methode der Vergleichung gelenkt, die im Zusammenhang des Tagungsthemas die “Rechts”-Vergleichung nur als “Rechtskulturen”-Vergleichung sinnvoll erscheinen läßt. Damit sind “comparative legal cultures” gemeint, für deren disziplinäre Verselbständigung erst kürzlich Kjell Å. Modeer mit guten Gründen geworben hat.34 Nur aus einer solchen vergleichenden Betrachtung ergeben sich die Unterschiede 27 29 Josef Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung. Einleitung in die vergleichende Rechtswissenschaft, Würzburg 1885, S. 5; daraus folgt für Kohler auch die, Coincidenz zwischen Rechts- und Kulturfortschritt (S. 17); vgl. auch Léotin-Jean Constantinesco, Rechtsvergleichung, Band 2: Die rechtsvergleichenden Methoden, Köln 1972, S. 153 f. 30 Vgl. die in diesem Sinne überzeugende Darstellungsmethode von Marcel Senn, Rechtsgeschichte - ein kulturhistorischer Grundriss ..., Zürich 1997, S. 1. 31 Senn, Rechtsgeschichte(Anm. 30), S. 3. 32 Vgl. Heinrich Scholler, Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen. Ein Beitrag zu Gustav Radbruchs Rechtsvergleichung, in: Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, hg. von Fritjof Haft (u.a.), Heidelberg 1993, S. 752. 33 Vgl. André-Jean Arnaud, Pour une pensée juridique européenne, Paris 1991, S. 195 f. 34 Kjell Å. Modéer, Rechtskultur im Ostseeraum - rechtshistorische und forschungspolitische Perspektiven (Rede vom 28. Januar 2000 an der Universität Greifswald anläßlich der Verleihung des “Doctor honoris causa”; im Manuskript S. 5); vgl. auch Großfeld, Macht und Ohnmacht (Anm. 4), S. 25. Zum interdisziplinären und diachronen “Kulturvergleich” aus der Sicht des Antikhistorikers vgl. besonders Christian Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989): Politische Sozialgeschichte 1867-1945, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1989, S. 147-163 (156-159).

und Gemeinsamkeiten, die Aussagen darüber erlauben, welche rechtlichen bzw. rechtshistorischen Elemente eine Rechtseinheit bilden oder zu konstituieren vermögen. Das Zusammentreten der Begriffe “Recht” und “Kultur” zum bündelnden Begriff der “Rechtskultur” ist seit dem frühen . Jahrhundert zu beobachten.35  konnte Moses Mendelssohn noch auf die Novität und inhaltliche Unbestimmtheit des “Wortes Kultur” hinweisen: “Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum. ... Indessen hat der Sprachgebrauch ... noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzusetzen.”36 Immerhin rechnet Mendelssohn “Kultur” mit aufklärerischem Optimismus zu den “Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern.”37 Die Kombination von Kultur und Recht wird beim Rechtsvergleicher Mittermaier greifbar, der die Vergleichung der “Begriffe von Recht, Staat und Strafe” als “Grundbegriffe” aus den “Culturverhältnissen und Bedürfnissen” der einzelnen Länder vornimmt und propagiert.38 Warnkoenig hat  in einem grundlegenden Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel “Ueber vergleichende Staatsund Rechtsgeschichte ...” ganz betont "vergleichende Cultur-, Staatsund Rechtsgeschichte” als Einheit gesehen39 und damit “Recht” und 28 35 Vgl. dazu auch Erk Volkmar Heyen, Kultur und Identität in der europäischen Verwaltungsrechtsvergleichung - mit Blick auf Frankreich und Schweden (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 168), Berlin/New York 2000, S. 10-15. 36 Moses Mendelssohn, Ueber die Frage: was heißt aufklären?, in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, hg. von Norbert Hinske, 2. Aufl., Darmstadt 1977, S. 444. 37 Mendelssohn, Ueber die Frage (Anm. 36), S. 445. 38 Karl Joseph Anton Mittermaier, Blicke auf den Zustand der Ausbildung des Criminalrechts ..., in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes2 (1830), S. 328. 39 L.A. Warnkoenig, Ueber vergleichende Staats- und Rechtsgeschichte mit Rücksicht auf ..., in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes 28 (1856), S. 386-409 (397).

“Cultur” disziplinär und begrifflich miteinander zu verknüpfen vesucht.  hat Wilhelm Arnold “Rechtskultur” als Inbegriff der “unendlich manigfachen Wechselwirkungen zwischen dem Rechtsund Culturleben eines Volkes” interpretiert.40 Der “Zusammenhang des Rechts mit der Cultur” wurde in zweifacher Hinsicht untersucht, einmal im “lebendigen Wechselverhältniß” mit den “wirtschaftlichen Zuständen”41 und zum anderen in der Bedeutung, die römisches und heimisches Recht für die betreffenden “Culturzustände” besitzen.42 Damit waren auch die “gesellschaftlichen” Zustände gemeint, denn - so formulierte es Lorenz von Stein - “alles Recht und so auch das Privatrecht wird gebildet durch die gesellschaftlichen Ordnungen, und die Geschichte des Rechts ist die Geschichte der Gesellschaft.”43 Aus dem bezeichneten heutigen universalen und inflationären Gebrauch des Kulturbegriffs für alles von Menschen Geschaffene folgen Definitionsprobleme,44 die zur Differenzierung von “Kultur” für die Vielzahl der individuellen, kollektiven und institutionellen Lebensbereiche zwingen. Nicht nur der allgemeine Kulturbegriff, sondern auch der definitionsbedürftige Teilbereich “Rechtskultur” pflegt noch in Verfassungskultur,45 Grundrechtskultur46 oder Gesetzgebungs29 40 Wilhelm Arnold, Cultur und Rechtsleben, Berlin 1865, S. IX. 41 Arnold, Cultur (Anm. 40), S. XII. 42 Arnold, Cultur (Anm. 40), S. XVIII; derselbe, Cultur und Recht der Römer, Berlin 1868, S. 5. 43 Lorenz von Stein, Zur europäischen Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart I, hg. von C.S. Grünhut, Wien 1847, S. 728; hier mit Bezug auf die gesellschaftliche Bedeutung von Rezeptionen gesagt. 44 Vgl. z.B. Jerzy Wróblewski, Legal culture and axiology of law-making, in: Heinz Schäffer (Hg.), Gesetzgebung und Rechtskultur. Internationales Symposion Salzburg 1986, Wien 1987, 11 f. mit Hinweisen auf A. Kreeberand C. Kluckhon, Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge 1952; L. Schneider and CH. Benjean (eds.), The Idea of Culture in the Social Science, Cambridge 1983. 45 Vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1982; derselbe, Europäische Rechtskultur (Anm. 13); Rainer Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Staat-Souveränität-Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, hg. von Dietrich Murswiek (u.a.), Berlin 2000, S. 163-182. 46 Vgl. Rudolf Hoke, Zur europäischen Rechtskultur, in: Gedächnisschrift Herbert Hofmeister, hg. von Werner Ogris (u.a.), Wien 1996,S 274; Häberle, Europäische Rechtskultur (Anm. 13), S. 16.

und Rechtsprechungskultur usw. unterteilt zu werden. Für die Vergleichung dieser Rechtsbereiche mit denen fremder Rechtsordnungen stellt sich zusätzlich die Frage, ob nicht auch nichtjuristische Normen in die Betrachtung miteinbezogen werden müssen.47 Die Frage ist zu bejahen, da andernfalls solche fremden Rechtsordnungen nicht verstanden werden können, die jede autoritative Regelungsform als “Recht” ansehen. Eigene vorgegebene kulturelle Vorstellungen können hier eher den Zugang versperren als ihn öffnen. Sozialwissenschaften, ökonomische Analyse, funktionale Rechtsvergleichung und die Entgrenzung von Ethnologie und Geschichte können hier methodisch Erkenntnishilfe bieten. Das muß auch für den Begriff der “europäischen Rechtskultur” bedacht werden. Je nach Abstraktionshöhe und Konkretisierungsdichte fallen die inhaltlichen Bestimmungen für den Begriff der “europäischen Rechtskultur” ganz verschieden aus. Franz Wieacker sah die abstrakten Konstanten europäischer Rechtskultur in ihrem “Personalismus”, “Legalismus” und “Intellektualismus”. Erklärt und begründet werden diese aus dem historischen Befund dreier “europäischer” Phänomene, nämlich1) dem Primat der Einzelperson als Subjekt, 2) der Unterwerfung der sozialen Beziehungen unter eine allgemeine Rechtsregel und3) der Tendenz europäischen Rechtsdenkens zu gedanklicher Konsequenz, allgemeiner Begrifflichkeit und systematischer Organisation des Rechts.49 Peter Landau hebt die Rationalisierung des Rechts durch das kanonische Recht als Element europäischer Rechtskultur hervor,50Rainer Schröder begreift imRahmen juristischer 30 47 Vgl. Winfried Hassemer, Über nicht-juristische Normen im Recht, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 81 (1982), S. 84; Großfeld, Macht und Ohnmacht (Anm. 4), S. 26. 48 Vgl. Meier, Welt der Geschichte (Anm. 34), S. 160. 49 Franz Wieacker, Grundlagen (Anm. 5), S. 185-189. 50 Peter Landau, Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, in: Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, hg. von Rainer Schulze (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 3), Berlin 1991, S. 39-57 (47).

Zeitgeschichte die “Zivilrechtskultur der DDR” als eine “für Rechtsvergleichung selbstverständliche Tatsache”, nämlich wie die Streitigkeiten als zivilrechtliche ausgetragen” wurden.51 Allen diesen Kriterien liegen europäische rechtshistorische Tatbestände und Erfahrungswerte zugrunde, von der griechischen und römischen Antike, vom Christentum, Lehnsrecht bis zur Aufklärung und zur nationalen Ordnung der industriellen Gesellschaften und Staaten im. und. Jahrhundert.52 Diese Kriterien europäischer Rechtsentwicklung dienen in dieser geläufigen Aufzählung einerseits der Abgrenzung von den Kulturen der islamischen, indischen und chinesischen Welt53 und sie sind zum anderen einseitig vom Privatrecht ausgehend gedacht.54 Die ursprüngliche Dominanz der Privatrechtswissenschaft und des Privatrechts in Europa meint in der Regel immer deren Grundlegung durch das römische Recht. Die “Entstehung der europäischen Rechtswissenschaft” ist identisch mit der Renaissance des römischen Rechts seit dem. Jahrhundert.55 Wenn Leopold Wenger formulierte, “der Römer nationale Kulturgeschichte ist ihre Rechtsgeschichte”,56 so kann diese Gleichsetzung als identitätsstiftender Faktor auch für das Verhältnis von europäischer Kultur und rezipiertem römischen Recht gelten. Die Gewichtung der Elemente europäischer Rechtskultur verschiebt sich teilweise aus der Sicht des öffentlichen Rechts. So zählt Häberle z.B. zu den rechtskulturellen Elementen Europas: 1) die Geschichtlichkeit seiner Rechtsentwicklung 31 51 Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR, Band 1 (Zeitgeschichtliche Forschungen (2/1), Berlin 1999, S. 9. 52 Vgl. Helmut Coing, Das Recht als ein Element der europäischen Kultur, in: HZ 238 (1984), S. 115. 53 Wieacker, Grundlagen (Anm. 5), S. 177. 54 Coing, Recht (Anm. 52), S. 8-10. 55 In diesem Sinne Rolf Lieberwirth, Entstehung der europäischen Rechtswissenschaft (1987), in:derselbe, Rechtshistorische Schriften, hg. von Heiner Lück, Weimar/Köln/Wien 1997, S. 315330. 56 Hier zitiert nach Ulrich von Lübtow, Studien zur Rechtsgeschichte, Band 3: Miszellen zur Rechtskultur (Recht 58), Rheinfelden und Berlin 1997, S. 49.

vom römischen Recht bis zu den Volksrechten; 2) die juristische Dogmatik als Folge der Rezeption des römischen Rechts, die modernen Verfassungsprinzipien mit Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Präzisierungen der Grundrechtsdogmatik sowie die Methode der Rechtsvergleichung; 3) die Unabhängigkeit der Rechtsprechung; 4) die Religionsfreiheit als Ausdruck weltanschaulich - konfessioneller Neutralität des Staates; 5) das in der eurpäischen Rechtskultur angelegte Spannungsverhältnis zwischen Vielfalt und Einheit, woraus zugleich 6) das rechtskulturelle europäische Spezifikum von Partikularität und Universalität folgt - letztere verwirklicht durch Demokratieprinzip, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Gerechtigkeitslehren usw.57 Differenzen und Differenzierungen innerhalb einer so definierten einheitlichen Rechtskultur Europas sowie zwischen den pluralen nationalen und regionalen Rechtskulturen bestimmen somit das Maß europäischen Einheitsbewußtseins und zeigen zugleich Möglichkeiten und Grenzen der Vereinheitlichung an.58 Objektive Elemente europäischer Rechtskultur (Normen, Institutionen) und subjektive (Einstellungen, Werthaltungen, Bewußtsein) können sich überlagern und wechselseitig bedingen. Sie können Maßstäbe für Makro- und Mikrovergleichung zum Rechtskulturbegriff bieten.59 Dieser setzt Maßstäbe für Rechtsvereinheitlichung und differenzierende Pluralität. Rechtsvereinheitlichung nur als forsche Beseitigung von Unterschieden verstanden und betrieben, kann den schwerwiegenden Verlust regionaler, nationaler, sozialer, religiöser, politischer und ganz allgemein kultureller Identitäten zur Folge haben und damit eine eigenschaftslose Welt und ungerechte Undifferenziertheit bewirken, die Menschen ihrer Lebenswelt entfremdet und Vorteile der Rechtsvereinheitlichung wieder zunichte macht.60 32 57 Häberle, Europäische Rechtskultur (Anm. 13), S. 21-30. 58 Ausführlicher dazu Mohnhaupt, Europäische Rechtsgeschichte (Anm. 1), S. 662 f. 59 So Heyen, Kultur und Identität (Anm. 35), S. 16 f.

Rechtshistorische Beobachtungen können hierzu Beurteilungsmaßstäbe bieten und beispielhafte Aussagen zum “europäischen” Selbstverständnis Europas in früheren Epochen machen. Zeugnisse der Selbstwahrnehmung von Angehörigen “europäischer” historischer Rechtskultur helfen Bewußtseinshaltungen offenzulegen und ihre identitätsstiftende Wirkungen erkennbar zu machen.61 Europa als kulturell - historisches Gebilde ist mehr als nur die Addition europäischer Staaten zur heutigen Europäischen Union. Johann Jacob Moser z.B. sah  in der Ermittlung von rechtlichen Gemeinsamkeiten in Europa ganz bewußt eine vergleichende Arbeitsmethode, die davon ausging, “daß man keinen Staat allein betrachtet, sondern bey jeder Materie allemal alle gegen einander hält und zeigt, was in allen Staaten von Europa dißfalls rechtlich oder üblich seye?”62 Rechtliche und außerrechtliche Elemente bildeten somit gleichberechtigt die “europäischen” Beobachtungsgegenstände. Das Untersuchungsziel bestand darin, für “alle Staaten von Europa ... deren Übereinstimmung oder Abweichung unter sich zu zeigen.”63 Die Möglichkeit der “Übereinstimmung” europäischer Staaten stand für Moser nicht in Frage, jedoch deren Ausmaß und Qualität. Fragt man mit Moser, was in allen europäischen Staaten “rechtlich oder üblich” war, so gehört dazu in erster Linie das römische Recht in der Gestalt des mittelalterlichen “ius commune”. Seine Bedeutung 33 60 Vgl. Jochen Taupitz, Europäische Privatrechtsvereinheitlichung heute und morgen, Tübingen 1993, S. 6 f. 61 In diesem Sinne auch Heyen, Kultur und Identität (Anm. 35), S. 17. 62 Johann Jacob Moser, Anfangs-Gründe Der Wissenschaft von der heutigen Staats-Verfassung Von Europa Und dem unter denen Europäischen Potenzien üblichen Völcker - oder allgemeinen Staatsrecht, 1. Theil, Tübingen 1732, S. 4. 63 Moser, Anfangs-Gründe (Anm. 62), Vorrede § 6. III

“für die europäische Rechtskultur” ist ein viel behandeltes Thema.64 Es darf dabei jedoch nicht verkannt werden, daß damit für Gesamteuropa noch kein einheitliches Privatrecht in Geltung war, sondern mit unterschiedlicher Wirkungsintensität eine gemeinsame und einheitlichePrivatrechtswissenschaft bestand.65 Allerdings konnte dieser in unterschiedlichem Umfang als “consuetudo” oder “communis opinio” auch eine Rechtsquellenqualität mit der Verbindlichkeit einer “vis legis” zukommen.66 Somit zeigen sich auch in der Verbreitung und Geltung des römischen Rechts durch die Rezeption in Europa nebeneinander Einheitlichkeit und Vielfalt. Die Rezeption des römischen Rechts war ein vielschichtiger kulturhistorischer und soziologischer Prozeß,67 der zu unterscheiden ist: einmal nach der Übernahme normativer Regelungen, von einzelnen dogmatischen Rechtsinstitutionen und Rechtsfiguren, von System und Methode sowie von Begrifflichkeit und sprachlichem Instrumentarium; zum anderen nach den verschiedenen Formen der Übernahme, nämlich der Vollrezeption, Anpassung, Uminterpretation und schöpferischen Kombination. So bildete das “Corpus iuris civilis” Justinians ein gemeinsames und vielseitig einsetzbares Rechtsfundament in zahlreichen europäischen Ländern, das als “ius commune” jedoch nirgends vollständig und ausschließlich übernommen worden war.68 Der ältere 34 64 Vgl. z.B. Julius G. Lautner (1896-1972), Zur Bedeutung des römischen Rechts für die europäische Rechtskultur und zu seiner Stellung im Rechtsunterricht. Mit einem Nachwort von Max Kaser, hg. von Claudio Soliva und Bruno Huwiler, Zürich 1976; Peter G. Stein, Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur. Aus dem Englischen von Klaus Luig, Frankfurt am Main 1996. 65 Für die folgenden Ausführungen stütze ich mich auch auf meinen Aufsatz: Europäische Rechts-geschichte (Anm. 1), S. 664 ff. 66 Vgl. z.B. Dissertatio iuridica de consuetudine unde et quando vim legis obtineat? Submittit Gerardus von dem Busch, Goettingae 1752; Georg Adam Struve, De communi doctorum opinione, Jenae 1661. 67 Vgl. Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Band 1: Älteres Gemeines Recht (1500-1800), München 1985, S. 8. 68 Helmut Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 1. Band: Mittelalter, München 1973, S. 29.

Begriff des “ius commune” stellte auf die Weiträumigkeit der Geltung der Rechtsregeln und die Einheitlichkeit der Rechtsüberzeugungen ab,69 die durch die Universitäten in Europa gebildet und verbreitet wurden. Als Funktionsbegriff zur Behandlung und Interpretation der einheimischen Rechte verlor jedoch der Begriff des “ius commune” seine Eindeutigkeit,70 zumal das “ius commune” im Rang nach dem heimischen Recht nur subsidiär galt: “Ad hoc jus (sc. commune) regulariter recurrendum est, quoties jura localia, provincialia et leges imperii deficiunt.”71 So war es auch im Reichsabschied von festgelegt.72 Dieses heimische Recht bildete als “ius particulare” den Gegenbegriff zum “ius commune” und markierte damit den kleinräumigen Geltungsrahmen, der durch die Masse einzelner Gewohnheitsrechte, Stadt-, Provinzial- und Landesordnungen sowie Privilegien gebildet wurde. Universelles, allgemeingültiges Recht auf der einen Seite sowie “ius particulare”, “ius speciale” oder “ius singulare” auf der anderen Seite bildeten in Theorie und Praxis eine dauerhafte Polarität möglicher Rechtsordnungsmodelle in der europäischen Geschichte des Rechts,73 von der schon eingangs die Rede war. Sie bildet auch heute für den europäischen Vereinheitlichungsprozeß ein beachtensbedürftiges Element. Lorenz von Stein hat für dieses Charakteristikum Europas  das Wort geprägt: “Sein Leben ist der Kampf seiner Unterschiede mit seiner eignen inneren 35 69 Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 8. Aufl., Heidelberg 1996, S. 2 f. 70 So auch Coing, Europäisches Privatrecht I (Anm. 67), S. 87. 71 J.B. Wernher (Praeses), De jurisprudentia et jure in genere, respondet J.D. Haespfer, Vitembergae 1702, S. 28. 72 In: Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede..., Tom III, ed. Chr.von Senckenberg, Frankfurt am Mayn 1747, S. 600. 73 Vgl. z.B. Michel Bastit, Naissance de la loi moderne. La pensée de la loi de Saint Thomas à Suarez, Paris 1990, S. 128-130; Heinrich Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht, Göttingen 1851 S. 122-127;Jean-Louise Halperin, Entre nationalisme juridique et communauté de droit, Paris 1990, S. 87-131 (“L´Europe partagée entre universalisme et particularisme”).

Gleichartigkeit.”74 Die Emittlung des “Gleichartigen in Europa” weist er dabei als Aufgabe der “europäischen Rechtsgeschichte” zu und die Erfassung der “Unterschiede” der “vergleichenden Rechtswissenschaft”.75 Beide Tätigkeiten bilden heute die einheitliche disziplinäre Aufgabenstellung der europäischen Rechtsgeschichte. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung hat europäische Rechtsgeschichte immer zwei Untersuchungsziele zu verfolgen: 1) die Geschichte gemeineuropäischen Rechts und 2) die Geschichte der unterschiedlichen Rechte in Europa. So steht der Rechtshistoriker und historisch arbeitende Jurist vor einer zweifachen Arbeitsaufgabe, nämlich einerseits die Einheitlichkeit oder Gemeinsamkeiten in der europäischen Rechtsentwicklung herauszufiltern, anderseits die Differenzen der nationalen und regionalen Rechte und Rechtsordnungen zu ermitteln. Darin liegt der Zwang zur vergleichenden Methode begründet. Der Schwerpunkt der rechtshistorisch vergleichenden Arbeit kann dabei mehr auf die Ermittlung der Gemeinsamkeiten76 oder der Unterschiede gerichtet sein.77 Als rechtshistorische Argumente dienen sie einheitsstützenden oder einheitsrelativierenden Positionen, die für die aktuelle europäische Rechtsvereinheitlichung nutzbar gemacht werden sollen. Das erscheint insofern problematisch, da aus dem rechtshistorischen Befund keine fertigen Rezepturen für die Gegenwart gewonnen werden können, sondern sich “nur” Problembewußtsein für aktuelle Rechtsgestaltungsaufgaben bilden läßt. Rechtsvergleichende Ermittlungen über das Verhältnis von einheitlich gemeinsamer und uneinheitlich partikularer Rechtssituation in 36 74 Lorenz von Stein, Das Rechtsleben Europas und die Wissenschaft, in: derselbe, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, Stuttgart 1876, S. 312. 75 von Stein, Rechtsleben (Anm. 74), S. 313. 76 Vgl. z.B. Helmut Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft, in: NJW43 (1990), S. 937-941 (939 f.); Zimmermann, Das römisch-kanonische ius commune (Anm. 7), 10-12, 18-20. 77 In letzterem Sinne die Einheitseuphorie mit guten Gründen relativierend Wilhelm Brauneder, Europäisches Privatrecht - aber was ist es? (Anmerkungen zu Coing und Zimmermann), in: ZNR 15 (1993), S. 225-235.

der Geschichte vermögen jedoch Erkenntnishilfen dafür zu bieten, warum sich partikulare und singulare Rechte sowie darauf gründendes Regionalbewußtsein - auch kulturpsychologisch bedingt - gegen eine Vereinheitlichung bisher gesperrt haben und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um Rechtsvielfalt für eine - auch unterschiedlich gestufte - Rechtseinheit fähig zu machen. Diese Problematik bildet ein Kontinuum europäischer Rechtsgeschichte und wurde bereits im. und. Jahrhundert durch die Gattung der Differentienliteratur in Europa behandelt.78 Diese untersuchte mit Vorrang die “differentiae” zwischen dem römischen “ius commune” und dem heimischen “ius patriae”, wobei im Zeitalter des Usus modernus sogar die Theorie vertreten wurde, daß in Deutschland zwei gemeine Rechte bestünden, nämlich die Ebene des fremden römischen Rechts und die des heimischen deutschen Rechts.79 Im Vergleich zwischen ius commune und heimischem ius particulare bildete in der Regel immer das römische Recht den Maßstab, an dem und mit dem andere partikulare Rechte gemessen wurden. Die Differenzen zwischen den beiden Rechtsquellenbereichen wurden genau aufgelistet, weil das Verhältnis zwischen gemeinem sowie territorialem und lokalem Recht wegen der vielfachen Überschneidungen und Widersprüche neu geordnet werden mußte. Das war auch deshalb notwendig, weil römisches Recht trotz des Fehlens einheimischen partikularen Rechts dann nicht angewendet werden durfte, wenn es im Einzelfall der Vernunft und Billigkeit widersprach.80 Diese komplexe 37 78 Heinz Mohnhaupt, Die Differentienliteratur als Ausdruck eines methodischen Prinzips früher Rechtsvergleichung, in: Excerptiones iuris: Studies in Honor of André Gouron. Edited by Bernard Durand and Laurent Mayali (Studies in comparative legal history), Berkeley /Califor-nia 2000, S. 439-458. 79 Vgl. Stinzing/Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 1. Halbband, München und Leipzig 1898, S. 58; Klaus Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ius Commune3 (1970), S. 71, 79. 80 Vgl. Heinrich Ernst Kestner (Praeses), Problema extemporaneum, ostendens, jus Romanum, deficiente jure statutario aut provinciali, non esse attentendum in casibus, ubi aut rationi aut aequitati repugnat, respondens Justus Wilhelm Pastoir, Rintelii 1705.

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