254 Wolfgang Sellert Alle Veränderungen waren jedoch Stiickwerk.'^ Sie zerstörten das einheitliche System des ZivilprozeCgesetzes, ohne es entscheidend zu verbessern, Der Wunsch nach einer Gesamtreform verstummte daher nicht. Er ist auch mit der neuen sogenannten Vereinfachungsnovelle nicht erfiillt worden. Die Grundlagen des liberalen Prozessrechts blieben bestehen. So ist weder die Inquisitions- noch die Eventualmaxime eingefiihrt worden. Weiterhin folgt das ProzeBrecht den klassisch-liberalen Zielsetzungen: Schutz der subjektiven Rechte des Einzelnen, Verwirklichung der objektiven Rechtsordnung und die Herstellung des Rechtsfriedens, Wie bisher steht im Vordergrund die Suche nach der materiellen Wahrheit, weniger die Lösung sozialer Konflikte. Gestärkt wurde statt dessen erneut die Rechtsmacht des Richters. Es wurden ihm vor allem vielfaltige AusschluBmöglichkeiten eingeräumt.^^ Sie sollen einer beschleunigten und vollständigen Vorbereitung des Haupttermins dienen,"** damit dort — nach dem Vorbild der strafprozessualen Hauptverhandlung — der Rechtsstreit ohne Zeitverlust auf einmal entschieden werden kann. Fragen wir abschlieBend noch einmal nach der Bedeutung der Reichsjustizgesetze: Allein die Beseitigung des zersplitterten Reichsrechtszustandes durch die Reichsjustizgesetze ist auch nach heutigen MaBstäben eine historische Leistung von epochaler Bedeutung. Vor dem Hintergrund eines noch zu schaffenden Vereinigten Europas gewinnt sie an Gewicht und gibt erneut AnstöBe zum Nachdenken und Handeln. Daruber hinaus sind die Reichsjustizgesetze — wie Franz Wieacker zutreffend formuliert hat — „Zeugnis eines gegluckten politischen Ausgleichs zwischen einem immer noch kraftvollen Obrigkeitsstaat und den Anspriichen der biirgerlichen Gesellschaft auf wirtschaftliche und politische Selbstbestimmung“.'’ Nicht zuletzt hat bereits die kurze Geschichte der Reichsjustizgesetze gezeigt, daB durch sie in einemnoch nie dagewesenen Umfang die Idee des Rechtsstaats verwirklicht werden konnte. DaB sie U. Wehler in seiner negativen Beurteilung des Bismarckreichs totschweigt,"® erscheint daher höchst bedenklich. Akten (§§ 251 a, 331 a ZPO) und die Wahrheitspflicht der Partcien (§ 138 ZPO) — vgl. im iibrigen Obersicht bei Rosenberg-Sch^tab, ZivilprozeBrecht, 12. Aufl. (1977), S. 14 f. Eine unter den Nationalsozialisten geplante Gesamireform kam nicht zum AbschluB. '■* Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren v. 1.7.1977. Zur Entstehungsgeschichte H. Franzki, DRiZ 1977, S. 161. Z.B. Zuriickweisung verspäteten Vorbringens und Ablehnung unbegriindeter Vertagungsanträge u.s.w., vgl. dazu H. Franzki, a.a.O., S. 161 ff. ■6 § 272 I ZPO. " F. Wieacker, a.a.O., S. 467; vgl. auch die iiberzeugende Wiirdigung der Reichsjustizgesetze von A. Laufs, in: Festschrift fiir Fi. Thieme, 1977, S. 72 ff., 88 ff. U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871—1918, 1973 =Deutsche Geschichte, Bd. 9; vgl. dazu die berechtigte Kritik von A. L.-vufs, a.a.O., S. 72 f.
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