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246 Wolfgang Sellert die Reichskammergerichtsordnung von 1495 * und die peinliche Gerichtsordnung von 1532 ^ waren infolge salvatorischer Klauseln fur die einzelnen deutschen Territorien nicht rechtsverbindlich geworden. Mit der Auflösung des Reiches im Jahre 1806 bildeten sich verstärkt souveräne Einzelstaaten aus, die sich als Träger einer unumschränkten Gesetzgebungsgewalt betätigten. Die Rechtszersplitterung erreichte ihren Höhepunkt, als sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche deutsche Partikularstaaten ein eigenes kodifiziertes Recht gaben.® Diesen Entwicklungen wirkte die national-liberale Bewegung entgegen. Zu ihremProgrammgehörte die Rechtseinheit Deutschlands, die Sicherung des Rechts gegen Unterdriickung durch Macht und Gewalt, die Gewährleistung der Rechtspflege gegeniiber Eingriffen der Exekutive, der Schutz der Persönlichkeit gegen die Allmacht des Staates und die Willkiir staatlicher Machtträger.® Dahinter standen die Ideen der Aufklärung, wie sie vor allem von Montesquieu ^ vertreten worden waren. Dessen Lehre, es könne keine Freiheit geben, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und der vollziehenden getrennt sei, wurde zum Leitgedanken. Der Unwille der Liberalen richtete sich insbesondere gegen die landesherrlichen Eingriffe in die Rechtspflege, gegen die Schriftlichkeit und daher Heimlichkeit des Verfahrens und die Abhängigkeit des Richters. Statt dessen forderte man die Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung durch Schwurgerichte, die öffentlichkeit und Miindlichkeit des Verfahrens sowie die richterliche Unabhängigkeit. Den national-liberalen Kräften gelang es jedoch nicht, die fiir die Herstellung einer solchen reichseinheitlichen Gesetzgebung notwendige Zentralgewalt zu schaffen.® Dies blieb vielmehr den restaurativen Kräften, also dem Bismarckreich vorbehalten, welches die liberale Bewegung besonders in ihren Anfängen mit den schärfsten Methoden bekämpft hatte. Politisch geschickt nahmdas Bismarckreich die Forderung der national-liberalen Einigungsbewegung auf und ordnete sie seinen imperialen Bestrebungen unter. Bismarck vollendete — ummit Eberhard Pikart zu sprechen —„was die Liberalen vollendet wissen * Im Reichsdeputationsabschied v. 1600 und sparer im Jiingsten Reichsabschied v. 1654 wurde sie zwar zur Einfiihrung in alien deutschen Staaten empfohlen. Unmittelbare Geltung erhielt sie in den Territorien freilich nicht. Vgl. W. Sellert, ProzeCgrundsatze und Stilus Curiae am Reichshofrat, 1973, S. 47. * Vgl. Salvatorische Klausel in der Vorrede zur Carolina. ® So z.B. die Verfahrensordnungen Hannovers (1850), Oldenburgs (1857), Liibecks (1862), Badens (1864), Bremens (1820, 1864), Wiirttembergs (1868) und Bayerns (1869). * H. Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. (1968), S. 52. ’ Esprit des lois, 1748. ® Das Verfassungswerk von Frankfurt scheiterte vor allem an den hoch immer starken Partikulargewalten; vgl. W. Sellert, in: HRGBd. I, Sp. 1368—1371 „Heinrich v. Gagern“.

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