Gunter Gudian 236 insbesondere fiir die sozialen Probleme kein Auge gehabt zu haben. Die Zeitgenossen sahen es anders. Um auch hier wieder mit Savigny selbst zu beginnen: Savigny hat Rechtswissenschaft durchaus „sowohl als Sozialwissenschaft wie als Normenwissenschaft“ verstanden,®^ die erstgenannte Forderung aber als einfiir allemal eingelöst betrachtet dutch den Riickgriff auf das römische Recht. Er und seine Nachfolger sahen darin axiomatisch das richtige und deshalb notwendigerweise auch gerechte Recht, darin friiheren Jahrhunderten und ihrer Idealisierung der angeblichen „ratio scripta“ durchaus geistig verbunden. Diese geistesgeschichtliche Fundierung ist aber nicht das allein tragende Moment des neuen Gebäudes gewesen. Hinzu kam, wie oft betont worden ist, die Ubereinstimmung des individualistischen, auf der weitestgehenden Privatautonomie aufbauenden antiken römischen Rechts mit den gesellschaftspolitischen Forderungen eines aufstrebenden Burgerturns und einer beginnenden Industrialisierung.®- Indes: Was fiir die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts vorteilhaft war, war es nicht unbedingt auch fiir die zweite. Mit der zunehmenden InduVgl. dazu die sehr eingehende Studie von Gerhard Dilcher (obcn, Anm. 6), vor allem S. 504—508. Auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (oben, Anm. 2), S. 358 f., sieht in der Historischen Schule ebenso wie in alien anderen „Kampfformeln und Positionen des 19. Jhs. . . . Entwiirfe fur die Ruckgewinnung der Identität des rechtlichen und rechtswissenschaftlichen BewuBtseins mit der nun entdeckten Geschichtlichkeit und also Gesellschaftlichkeit der (nationalen oder sozialen) Existenz". Damit im Prinzip iibereinstimmend fcrner Horst Schröder, Zur historischen Methode F. K. V. Savignys, in: Sammelband zur Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben von Karel Maly, Prag 1979, S. 71—103, hier S. 73 („Die wcnigen angefiihrten Beispiele machen deutlich, daB Savigny sich iiber die theoretische Bedeutung der unterschiedlichen Methodologieanschauungen bewuBt war und seine eigene Methode im Zusammenhang mit den politischen und wissenschaftlichen Problemen der Zeit verstanden wissen wolIte.“). Konsequenterweise riickt Dilcher Savigny mehr in die Rolle eines wirklichen Reformers, vgl. vor allem S. 515 ff.: „Durch die historisierende Ausrichtung“ entzog er „das Privatrecht dem Zugriff des Staates und gab es in die Hand des wisscnschaftlich gebildeten Juristen, das heiBt aber eines Vertreters der biirgerlichen Gesellschaft.“ Mit der Entscheidung fiir das römische Recht votierte man „fur ein abstraktes Verkehrsrecht“. Das war eine Wertentscheidung, „die aber ideologisch umgewandelt wurde zum Prinzip der juristischen Methode schlechthin und damit einer Wertungsdiskussion entzogen wurde“. Das so entwickelte Privatrecht war auch „keineswegs unpraktikabel“ oder „lebensfremd, wie ihm oft vorgeworfen wird“, sondern ermöglichte „in ungeheuer effizienter Weisc die durch keine materiale Sozialethik gebremste Freisetzung des planenden menschlichen Willens, durch Vorausberechenbarkeit des systematisierten Rechts und durch Willcnsdurchsetzung im Wege freier Gestaltung insbesondere der Schuldverhältnisse. Die Entscheidung der Zeit fiir den rechtswissenschaftlichen Positivismus war also eine Entscheidung fiir diese Dynamik, die in der Tat im vergangenen Jahrhundert in erstaunlich rascher Zeit die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen unserer Gegenwart geschaffen hat“ (S. 518 f.). Ähnlich auch schon Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Anm. 2), S. 439 ff.
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