Die DEUTSCHE Reichsgesetzgebung 221 gemeinheit und Abstraktheit eines Gesetzes durchbrochen wird. Dock sind es nicht diese, von der Verfassung selbst normierten Ausnahmen, die den Grundsatz ins Wanken gebracht liaben, Vielmehr hängt dies mit der Notwendigkeit zusammen, daB ein moderner Staat in zunehmendem MaBc lenkend und planend in gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse mit teilweise sehr konkreten MaBnahmen eingreifen muB.®^ Wollte der Gesetzgeber dieses Feld nicht ganz der Exekutive iiberlassen und sich damit selbst um die Beeinflussung dieser, fiir das Gemeinwesen so eminent wichtigen Vorgänge bringen, muBte er sich von der klassischen Definition seines Handlungsspielraums durch den Begriff des abstrakt-generellen Gesetzes lösen. Dies geschah teilweise faktisch schon in der Weimarer Republik und wurde dann fiir die Bundesrepublik unabweisliche Notwendigkeit. Seit dem grundlegenden Aufsatz Ernst Forsthoffs aus dem Jahre 1955 und einer sich daran anschlieBenden, lebhaften Diskussion in der deutschen Staatsrechtslehre ist diese Entwicklung auch theoretisch anerkannt. Danach gibt es heute die Begriffe des MaBnahme- und des Einzelfallgesetzes. Als Einzelfallgesetz bezeichnet man solche Rechtsakte, die —offen oder versteckt — Rechtsfolgen an einen konkreten Tatbestand kniipfen, während das MaBnahmegesetz einen konkreten Zweck in Gesetzesform verwirklicht. Diese beiden Gesetzesformen können heute keineswegs mehr als bloBe Ausnahmen vom generell-abstrakten Gesetz angesehen werden. Man hat nachgewiesen, daB die Hälfte aller vomBundestag seit dem Jahre 1949 beschlossenen Gesetze MaBnahmegesetze waren.®^ Unter Einbeziehung der Einzelfallgesetze verschiebt sich die Relation noch einmal, so daB dann nur noch maximal ein Funftel aller Gesetze generelle und abstrakte Regelungen enthalten.®*' Hierin offenbart sich ein grundlegender Wandel des Gesetzesbegriffs und der Funktion der Gesetzgebung im 20. Jahrhundert. Zugleich indiziert dieser Vorgang ein neues Spannungsfeld zwischen Legislative und Exekutive. 4. Zusammenfassung Obwohl der Bericht nur sektorale Einblicke in die Geschichte der deutschen Reichsgesetzgebung im 19. und 20. Jahrhundert verschaffen konnte, er- ®'’ Vgl. Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger. Königsberger Rechtswiss. Forsch. Bd. 2, 1938. Ernst Forsthoff, Uber MaBnahmengesetze. In: Gedächtnisschrift fiir Walter Jellinik, 1955, S. 221 ff. Vgl. Kurt Huber, MaBnahmegesetz und Rechtsgesetz. Eine Studie zum rechtsstaatlichen Gesetzbegriff. 1963, S. 26 ff. Vgl. zu dieser Problematik auch Oberreuter (wic Anmerkung 59), S. 9 ff. Alexander Gorlitz, Gesetzgebung, In: Handlexikon zur Politikwissenschaft, 2. Aufl. 1972. 84
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