216 Bernhard Diestelkamp daB die Aktivitäten der Reichsregierung auf dem Gebiet der Normsetzung, soweit es sich imReichsgesetzblatt niederschlug, keineswegs auf die Rechtsform der Verordnung beschrankt war. Dies ist nicht etwa Zufall, sondern erweist sich nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges als symptomatisch fiir die Rechtsordnung des Reiches. Durch Gesetz vom 4. August 1914 verzichtete der Reichstag ausdriicklich auf seine Gesetzgebungskompetenz fur die Organisation der Kriegsverwaltungswirtschaft.®- Die Reichsregierung machte ihrerseits nun keineswegs von der vorgegebenen Rechtsform der Verordnung Gebrauch. Vielmehr besteht das Reichsgesetzblatt imJahre 1915 zu 95 °/o aus „Bekanntmachungen“ der Exekutive zu den Materien der Kriegswirtschaft, mit denen eine fast perfekte Rechtsordnung geschaffen wurde. Auch nach der Revolution und dem Ubergang zur parlamentarischen Demokratie im Jahre 1919 blieb man bei der fiir die konstitutionelle Monarchie entwickelten Gesetzgebungstheorie mit ihrer Unterscheidung von formellen und materiellen Gesetzen. Doch entstanden neue Problemzonen dadurch, daB fiir die Exekutive auBerordentliche Gesetzgebungskompetenzen entstanden oder in der Verfassung zumindest imAnsatz vorgesehen wurden. Der eine Bereich betrifft die sogenannten „Ermächtigungsgesetze“. Nach dem Vorbild des Gesetzes vom 4. August 1914 trat zwischen dem Jahr 1919 und dem Ende des Jahres 1923 der Reichstag sieben Mai der Reichsregierung sein Gesetzgebungsmonopol ab und ermachtigte sie zum ErlaB von Normen zur Beseitigung von Notständen.®^ Es war dies die wirre Anfangsphase der Republik nebst der die Wirtschaft und Gesellschaft an den Rand des Ruins bringenden Inflation. So zweckmäBig im Einzelfall diese Lösung gewesen sein mag, so verderblich war diese Staatspraxis fiir die Entwicklung des politischen Stils in der jungen Republik. Das erweist sich besonders deutlich an der radikalen Ausweitung dieses urspriinglich nur fiir konkret benannte Notstande gedachten Instruments. Die drei letzten Gesetze dieser Art vom 23. Februar —verlängert 25. Mai und 14. Juli — 13. Oktober und 8. December 1923 ermachtigten nämlich zur Normsetzung auf fast alien Gebieten des Rechtslebens. Das hatte zur Folge, daB zwischen dem 13. Oktober 1923 und dem 14. Februar 1924 immerhin 110 teilweise iiberaus bedeutsame Regierungsverordnungen ergingen,®^ durch die die Exekutive am Reichstag vorbei zum Beispiel die Gerichtsverfassung und das ProzeBrecht grundlegend reformierte.®^ ®- Huber, Dokumente (wie Anm. 11)., Bd. 2, S. 457 Nr. 316. Vgl. Huber, Dokumente (wie Anm. 11), Bd. 3, S. 185 ff. Nr. 177—183. ®'* Vgl. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2 1951, S. 103, Anm. 182, 184. ®® Vgl. Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 157, 158 ff.
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