Bernhard Diestelkamp 214 richtete sich aber die politische Forderung des Dritten Standes nach Beteiligung einer gewählten Vertretungskörperschaft an der Gesetzgebung sowie nach Absicherung dieses Zustandes in einer Verfassungsurkunde, an die auch der Monarch gebunden war.^^ Verfassungen mit der Zulassung von gewählten Landtagen wurden in Deutschland während der ersten Halfte des 19. Jahr nur in den siiddeutschen Staaten erlassen.^^ Doch war den Parlamenten eine Beteiligung am Gesetzgebungsvorgang in diesen Verfassungen sowohl formell als auch materiell nur sehr zuriickhaltend konzediert worden. Als Beispiel diene die Bayerische Verfassung von 1818,^“ die die Kontrolle und Mitwirkung der Ständeversammlung beschränkte auf dasjenige „allgemeine neue Gesetz, welches die Freyheit der Personen oder das Eigenthum der Staatsangehörigen betrifft“, eine Formel, die weiterreichende Bedeutung erlangen sollte. Die beiden gröBten deutschen Staaten —österreich und PreuBen —fanden aber selbst diesen zaghaften Obergang zur konstitutionellen Monarchie erst nach der gescheiterten Biirgerlichen Revolution von 1848/49.^® Daher wurde bei ihnen auch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Problem virulent, an welchen Rechtssetzungsakten die Parlamente beteiligt werden sollten. Ohne daB dieser ProzeB hier imeinzelnen nachvollzogen werden kann, läBt sich doch allgemein sagen, daB in PreuBen und damit seit 1870/71 auch imDeutschen Reich, der Monarch und seine Exekutive gegeniiber dem Parlament ubermachtig blieben, was sich auch auf die Normsetzungsbefugnis auswirkte. Der Reichsregierung blieb ein weites Feld zur Rechtssetzung, auf dem sie auch kraftig tätig geworden ist. Die deutsche Staatsrechtslehre hat diesen Zustand in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf den Begriff gebracht mit der Unterscheidung zwischen „formellem“ und „materiellem“ Gesetz.^’^ Danach ist „formelles Gesetz“ diejenige allgemeine Rechtsnorm, die von dem dafiir zuständigen Staatsorgan erlassen worden ist, also heute das vomParlament beschlossene Gesetz, das nunmehr auch allein diese Bezeichnung trägt. „Materielles Gesetz“ ist dagegen jeder Rechtssatz, dessen Inhalt der Abgrenzung „der freien Tätigkeit von Persönlichkeiten gegeneinander“ dient, wie Georg Jellinek in Fortentwicklung von Gedanken Paul Labands formuliert hat, oder der „der personlichen Freiheit imallgemeinen, demEigenturn im besonderen Schranken zieht“, um eine Formulierung von Gerhard Anschutz zu zitieren.^® Materielle Gesetze brauchten nicht vom Parlament Vgl. Schmidt (wie Anm. 8), S. 140. Vgl. Huber (wie Anm. 3), Bd. 1, §§ 19 ff; Bd. 2, §§ 3 ff. Vgl. Huber, Dokumente (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 141 ff. Nr. 51. Vgl. Huber (wie Anm. 3), Bd. 2, § 55 III.2, Bd. 3, §§ 2 ff. Vgl. dazu Erhard Denninger, Staatsrecht 1, rororo-Rechtswissenschaften, studium 34, 1973, S. 110 ff. Beide Zitate bei Schmidt (wie Anm. 8) S. 141.
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