Wir dürfen nach allem davon ausgehen, daß Savigny das Spannungsverhältnis zwischen der rechtstheoretischen Vorstellung eines vorgeschichtlichen, göttlichen Ursprungs des Rechts und der gleichzeitig methodisch betriebenen geschichtlichen Rechtswissenschaft aufrecht erhalten hat, ohne die beiden Bereiche ineinander verfließen zu lassen. Diese Ambivalenz ist bei Savigny nicht ganz singulär, und kein geringerer als Wolfgang Kunkel hat darauf hingewiesen, daß Savignys geschichtliche Mission „reich an scheinbaren und wirklichen Paradoxien“ sei.235 Wir können uns hier darauf beschränken, an dieWidersprüchlichkeit zu erinnern, die Savignys Sicht auf das römische Recht insoweit innewohnt, als er mit Rücksicht auf die Dogmatik des geltenden römischen Rechts bekanntlich von der Tradition des Usus modernus absehen und auf das von der justinianischen Kompilation wiedergegebene Recht zurückgreifen wollte. Heinrich Mitteis hat Savigny daher in einer berühmt gewordenen Bemerkung eine „sowohl romantische wie romanistische Doppelseele“ zugeschrieben – romantisch vom tradiertenVolksgeist ausgehend und gleichzeitig romanistisch die Ergebnisse derWeiterentwicklung des römischen Rechts ablehnend.236 In seinem Brief an Balug’janskij nahm Savigny auf dieVorstellung von Mission und Kolonisation Bezug,weil er wußte, daß die Begrifflichkeit der Erweckungsbewegung insoweit einen Referenzrahmen bot, der ihn jedenfalls mit der politischen Elite des Zarenreiches verband. Hier im Osten Europas nämlich sahen Wortführer der Erweckungsbewegung, unter ihnen besonders Johann Heinrich Jung-Stilling (17401817), in heilsgeographischer Hinsicht jenen Ort, an den sich Christen angesichts des bald zu erwartenden Weltendes flüchten konnten.237 re cht swi s s e n scha f t al s j ur i st i sch e dok t r i n 76 235 W. Kunkel, Savignys Bedeutung für die deutsche Rechtswissenschaft und das deutsche Recht, in: Juristenzeitung 1962, S. 457-463 (458). 236 H. Mitteis, Die Rechtsgeschichte und das Problem der historischen Kontinuität, in: Abhandlungen der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1947, Phil.-Hist. Klasse Nr. 1 (1948), S. 9; vgl. H.Thieme, Kontinuität – Diskontinuität in der Sicht der Rechtsgeschichte, in: H.Trümpy (Hrsg.), Kontinuität – Diskontinuität in den Geisteswissenschaften (1973), S. 150-166. 237 Vgl. eingehendT. Högy, Jung-Stilling und Rußland. Untersuchungen über JungStillings Verhältnis zu Rußland und zum „Osten“ in der Regierungszeit Kaiser Alexanders I. (1984), S. 54 ff.; M. Geiger, Aufklärung und Erweckung. Beiträge zur Erforschung Johann Heinrich Jung-Stillings und der Erweckungstheologie (1963), S. 253ff. und 283ff.; E.Benz, Jung-Stilling in Marburg (1949), s. 28-34; D e) Rußlands Bedeutung für die Erweckungsbewegung
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