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Die historischen Bedingungen, unter denen wissenschaftliches Rechtsdenken in ein Land mit fremdem, aus einer ganz anderen Tradition entstandenen Recht exportiert werden kann, sind bekanntlich vielfach mit Rücksicht auf die Rezeption des römischen Rechts im deutschen Hochmittelalter untersucht worden. InsbesondereWieacker hat imAnschluß anVorüberlegungen mehrerer Gelehrter gezeigt, daß die Rezeption hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Verwissenschaftlichung eines geltenden Rechts zu verstehen sei.119 Diese AnschauungWieackers kann weitgehend übertragen werden auf die Perspektive der Rechtsgeschichte des Zarenreiches im19. Jahrhundert. Sie bietet ein Beispiel dafür, daß die Begegnung mit der Pandektenwissenschaft eine Einführung rechtswissenschaftlicher Strukturen in eine davon bislang kaum berührte Rechtsordnung auslöste. Hier liegt sogar ein besonders reiner Fall einer Rezeption vor, die im Kern durch Verwissenschaftlichung gekennzeichnet war.Wir haben es mit einer langfristigenVermittlung wissenschaftlicher Merkmale in das russische Recht zu tun. Von der heutigenWahrnehmung dieser Entwicklung des russischen Privatrechts im19. Jahrhundert durch die rechtshistorische Forschung ist die Frage zu unterscheiden, wie die Beteiligten selbst denVorgang bewerteten. Daß dies bislang nicht hinreichend geklärt ist und es insbesondere nur wenige einschlägige Vorarbeiten gibt, liegt u.a. daran, daß der Bestand an bekannten und zugänglichen Quellen relativ gering ist. Die Äußerungen der Beteiligten sind zudem unter demVorbehalt zu betrachten, daß die Angelegenheit besonders heikel ist: Die Korrespondenz mit offiziellen Repräsentanten eines Staates darüber, daß dessen Rechtsordnung der Verbesserung mit ausländischer Hilfe bedürfe, berührt dessen Reputation und nötigt mitunter zu verschleiernden Formulierungen.Aber auch unter diesen Bedingungen ergibt sich nun ein interessanter Zugang zu der Perspektive der Beteiligten mart i n ave nar i u s 47 119 F.Wieacker, Das römische Recht und das deutsche Rechtsbewußtsein (1944), S. 18 u. 35; ders., Europa und das römische Recht.Verborgenheit und Fortdauer, in: Romanitas 3 (1961), S. 68-85 (71); ders., Privatrechtsgeschichte (Anm. 60), S. 131. Vgl. nun M.Avenarius,Verwissenschaftlichung als „sinnhafter“ Kern der Rezeption: eine Konsequenz aus Wieackers rechtshistorischer Hermeneutik, in: O. Behrends/ E. Schumann (Hrsg.), FranzWieacker – Historiker des modernen Privatrechts (2010), S. 119-180. i i i . b e d i ngung e n und wahrne hmung re cht swi s s e n scha f t l i ch e n t ran s f e r s

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