Sieht man auf die Dogmatik selbst, so fällt in der frühesten Neuzeit vor allem der überragende praktische Einfluß von Richter-Professoren wie Benedict Carpzov in Sachsen und David Mevius im Ostseeraum ins Auge.71 Der wohl bedeutendste deutsche Jurist der frühen Neuzeit, Christian Thomasius, hat in vielen Punkten das spätere Privatrecht beeinflußt, z. B. in der Bekämpf ung der römischen “laesio enormis“.72 Er legte auch den Grund für die Abschaffung der Hexenprozesse und der Folter in Preußen.73 Überhaupt ist die deutsche Aufklärungsgesetzgebung des 18. Jahrhunderts ohne dieVorarbeit der Rechtstheorie nicht denkbar. - Dasselbe gilt noch verstärkt im19. Jahrhundert.74 Eine Fülle neuer, von der Theorie geprägter Begriffe wie „juristische Perre cht swi s s e n scha f t al s j ur i st i sch e dok t r i n 334 68 S. Lepsius, Communis opinio doctorum, in, HRGI (2.Aufl.), 4. Lieferung (2006), Sp. 875-877; J. Schröder, Recht alsWiss. (Fn. 6), s. 46-48. 69 J. Schröder, Recht alsWiss. (Fn. 6), s. 198-200. 70 Brigitte Borgmann/Karl H. Haug, Anwaltshaftung, 3.Aufl., München 1995, s. 111. 71 S. zu ihnen G. Kleinheyer/J. Schröder (Fn. 8), s. 72 Dazu Klaus Luig, Der gerechte Preis in der Rechtstheorie und Rechtspraxis von ChristianThomasius (1655-1728), in,Diritto e potere nella storia Europea, 1982, s. 775803. 73 DazuW. Ebner, ChristianThomasius und die Abschaffung der Folter, in, Ius Commune 4 (1972), S. 73-80; G. Schwerhoff, Aufgeklärter Traditionalismus. Christian Thomasius zu Hexenprozeß und Folter, in, ZRG(GA) 104 (1987), 247-260. 74 Zum Einfluß der historischen Schule auf die Rechtsprechung generell siehe die Untersuchungen von Reimund Scheuermann, Einflüsse der historischen Rechtsschule auf die oberstrichterliche gemeinrechtliche Zivilrechtspraxis bis zum Jahre 1861, Berlin etc. 1972; Hans Georg Mertens: Untersuchungen zur zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB, in,AcP174 (1974), s. 333 ff. - Zum Einfluß Savignys auf den allgemeinen Teil des BGB, Horst Hammen, Die Bedeutung Friedrich Carl v. Savignys für die allgemeinen dogmatischen Grundlagen des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, Berlin 1983, und dazu Jan Schröder, Zum Einfluß Savignys auf den allgemeinenTeil des deutschen bürgerlichen Rechts, in, Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 14 (1985), s. 619-633. opinio doctorum“, also die allgemeine Meinung der Rechtsgelehrten, als gewichtiges Argument, das nur durch ganz sichere Gegenargumente widerlegt werden kann.68 Dieses Argument spielte zweifellos auch in der Praxis eine große Rolle. Im19. Jahrhundert betrachtet man die Rechtswissenschaft vielfach sogar als Rechtsquelle,69 was bedeutet, daß die Rechtsprechung an sie gebunden ist. Soweit geht man zwar im19. Jahrhundert nicht mehr. Aber immerhin ist doch - jedenfalls in der anwaltlichen und notariellen Praxis - nach wie vor die „herrschende Meinung“ zu befolgen,70 wenn Gesetz und Rechtsprechung keine klare Richtung zeigen.
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