Regierung Nikolaus’ I. förderte ein ausgeprägt positivistisches Rechtsdenken. Diese Entwicklung erfuhr einen Höhepunkt in der Schaffung des Svod Zakonov sowie in einem ausdrücklichen, absolutistisch motivierten Verbot der Auslegung von Gesetzen.65 Hinzu kam eine Ausrichtung der Juristenausbildung auf die Kenntnis der Gesetze, was terminologisch dadurch zum Ausdruck gebracht wurde, daß bei der Bezeichnung der Studienfächer dasWort „pravo“ (Recht) durch den Ausdruck „zakon“ (Gesetz) ausgetauscht wurde. Gegenstand des Studiums war fortan die „zakonovedenie“ (Gesetzeskunde).66 Naturrechtliches Denken, das eine Herleitung überpositiven Rechts aus einer natürlichen oder göttlichen Ordnung kennt, wäre diesem reaktionären Positivismus zuwider gelaufen. Auch die säkularisierte Naturrechtslehre, die sich im18. Jahrhundert entwickelt hatte, sollte niedergehalten werden. Sie hätte sonst auch im Zarenreich dazu herausfordern können, den Positivismus des reaktionären Gesetzesstaates zu hinterfragen und die tradierte gesellschaftliche Ordnung des Reiches einschließlich der Leibeigenschaft durch einen naturrechtlichen Begriff der Person zu erschüttern. Insgesamt dürfte die russische Regierung also eine Übereinstimmung ihrer eigenen Orientierung mit dem Programm der Historischen Schule gesehen haben. Ausgehend von dieser Erwartung sollte sich das Studienprogramm der Stipendiaten zunächst über zwei Jahre erstrecken. Ihr Lehrprogramm sollte den Sankt Petersburger Vorstellungen zufolge Pandekten, allgemeines deutsches Zivilrecht, Zivilrecht und Gerichtsverfahren Preußens, Strafrecht und Strafprozeß, Staatsrecht und Politik,Völkerrecht sowie allgemeine Rechtstheorie und Rechtsphilosophie umfasmart i n ave nar i u s 33 65 Dies bestimmte Art. 65 des Staatsgrundgesetzes (Osnovnye gosudarstvennye zakony).Vgl. I.A. Pokrovskij,Osnovnye problemy graždanskogo prava (Grundprobleme des Bürgerlichen Rechts, 1917, Neudruck 1998), S. 93; D. I. Mejer, Russkoe graždanskoe pravo (Russisches Bürgerliches Recht), 4.Auflage (1868), S. 27; J. Hasselblatt, Die Justizreform in Rußland (1876), S. 38 f. Es handelte sich um einen zuvor vielfach inVerordnungen bestätigten Grundsatz; vgl. Institutionen des Russischen Rechts, herausgegeben und für die Ostseeprovinzen zum Behuf der Darstellung ihres Partikularrechts deutsch bearbeitet, Bd. 1 (1819), S. 16 f. mit Nachweisen. 66 Vgl.Torke, Das russische Beamtentum (o. Fn. 40), S. 135 ff. (142); Maurer, Hochschullehrer (o. Fn. 37), S. 167; G. Baranowski,Über den Nutzen einer Lehrdisziplin „Allgemeine Rechtsgeschichte“:Rückblick und Ausblick, in: J. Eckert (Hrsg.), Der praktische Nutzen der Rechtsgeschichte. Festschrift für H. Hattenhauer (2003), S. 6;Avenarius, Rimskoe pravo (o. Fn. 1), S. 30 mit Anm. 13; ders., Rezeption (o. Fn. 1), S. 17.
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