sagen: die neuere Rechtstheorie hat ihn überhaupt aufgegeben. Sein Hintergrund war,wie gesagt,der Gedanke, daß das Recht insgesamt ein organisches, vernünftiges Ganzes ist, aus dessen System heraus jeder - auch der nicht ausdrücklich geregelte - Fall entschieden werden kann. Von diesen Prämissen verabschiedet sich die Rechtstheorie schon im späten19. Jahrhundert.Mehr und mehr setzt sich dieVorstellung durch, daß das Recht nicht ein Produkt der Rechtsüberzeugung, des stillwirkenden vernünftigenVolksgeists ist, wie die historische Schule meinte, sondern ein oft zufälliges Erzeugnis des gesetzgeberischenWillens.35 Ludwig Enneccerus formuliert 1911eine damals schon fast allgemeine Meinung so: Savigny habe das Recht auf die Rechtsüberzeugung gestützt. Aber „die neuere Zeit“ führe „das Recht auf den allgemeinen Willen zurück, der zwar durch das Rechtsbewußtsein, noch mehr aber durch Gedanken der Zweckmäßigkeit und des Fortschritts bestimmt wird“.36 An die Stelle des Idealismus der historischen Schule tritt ein Voluntarismus. Damit fällt die Vorstellung eines lückenlosen Rechtssystems in sich zusammen.Wenn das Recht ein Produkt des gesetzgeberischen Willens ist, sich auch noch aus ganz verschiedenen Zeitschichten zusammensetzt, dann ist seine innere Vollständigkeit und Konsequenz nicht mehr gewährleistet. Für positivistische Juristen um 1900 ist denn auch der Gedanke, im Gesetz sei alles enthalten, oder - wie man es sich nun naturalistisch denkt - der Gesetzgeber habe jeden möglichen Fall vorbedacht, geradezu absurd:Das positive Recht müßte sonst, so schreibt etwa Gerhard Anschütz 1904, „nicht Menschenwerk, also Stückwerk, sondern die Offenbarung einer übermenschlichen jan schröde r 323 35 Vgl. nur etwa R. Jhering, Geist (Fn. 16), 3.Teil, 1.Abt. (1865), 3.Aufl., Leipzig 1877, s. 377 (Recht als „allgemeiner Wille“); Karl Binding, Handbuch des Strafrechts, 1. Band, Leipzig1885, s. 197(„Alles objektive Recht ist erklärter Gemeinwille“);Heinrich Dernburg, Pandekten, 1. Band, 5.Aufl., Berlin1896, s. 43 („Recht im objektiven Sinne ist der allgemeineWille“); Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Halle 1911, s. 109 („unverletzbar selbstherrlich verbindendesWollen“); Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz,Tübingen1914, s. 13 (Gesetz ist „der in Gesetzesform erklärte Wille[n] der Gesamtheit“); Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft,4.Aufl., Leipzig1919,s.2f. („einWollen und Sollen“, „einWollen, dessen Absicht es ist, ein Sollen zu begründen“). Zum Ganzen Jan Schröder, ZurTheorie des Gewohnheitsrechts zwischen1850und1933, in:H.- P.Haferkamp/T.Repgen (Hrsg.):Usus modernus pandectarum. Römisches Recht,Deutsches Recht und Naturrecht in der frühen Neuzeit.Klaus Luig zum70. Geburtstag, Köln etc. 2007, 219-244 (223-226). 36 Ludwig Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 1. Band, 1.Abteilung: Einleitung, Allgemeiner Teil, Marburg 1911, § 21 II, s. 51
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