sempfinden trifft. „Der gemeine Mann“ kann die Argumentation des Gerichts verstehen und nachvollziehen. Es kommen keine komplizierten rechtsdogmatischen Begriffe oder Gedankengänge vor, die störend wirken könnten. Die materielle Gerechtigkeit des einzelnen Falles, welche sich ausschließlich an den Besonderheiten des konkreten Einzelfalles orientiert, wird somit in den Mittelpunkt gerückt. Damit braucht der Richter nicht den Präzidensfällen oder einer herrschenden Meinung in der Rechtswissenschaft zu folgen. Das bedeutet wiederum, dass der Richter keine wissenschaftlich verankerte juristische Ausbildung braucht. Eine juristische Schulung würde, nach dieser Auffassung, den Richter sogar beimAblesen des allgemeinen Rechtsempfindens, das Kirchmann als das natürliche Recht bezeichnet, behindern. Es wäre somit ausreichend, wenn der Richter ein verantwortungsvoller und rechtsbewusster Mitbürger mit einem Gefühl für ein gerechtes Gerichtsurteil sei. Mit einer solchen Richterrolle würde der Richter mehr als einVertreter der Gesellschaft verstanden, denn als ein Angehöriger eines spezialisierten Berufsstandes. Aus einem anderen Blickwinkel scheint der Preis für eine solche „imVolk verankerte“ Rechtsanwendung sehr hoch. Ein „guter“ Richter, der seine Entscheidungen auf ein moralisches Verständnis, oder sogar ein Bauchgefühl, gründet, könnte sicherlich die einfachen Fälle meistern, ohne dass dieVorhersehbarkeit des Rechts und die Rechtssicherheit darunter leiden. Die schwierigen Fälle stellen jedoch ganz andere Anforderungen an den Richter, als reine Routine und Fingerspitzengefühl. In den schwierigen Fällen muss der Richter, um die formelle Rechtssicherheit garantieren zu können, eine qualifizierte und entwickelte juristische Technik oder Methode meistern können, die eine ad hoc-mäßige Rechtsanwendung ausschließt. Die formelle Rechtssicherheit, die sich vor allem durch Einheitlichkeit und Vorhersehbarkeit in der Rechtsanwendung auszeichnet, setzt daher eine methodische Systemtreue voraus, wenn nicht alles zu reiner Willkür oder einem „Glückspiel“ verkommen soll. In dieser Hinsicht spielt die Rechtsdogmatik eine lebenswichtige Rolle für die Gesellschaft. Sie hat die Aufgabe, eine systematische Grundlage, sowohl für die Ausbildung von Juristen als auch für die Rechtsanwendung, zu liefern. Folglich besteht ein enger Zusammenhang zwischen Rechtsdogmatik, der formellen Rechtssicherheit und der Richterkompetenz. DieVerbindung zwischen Theorie und Praxis hält außerdem die verschiedenen Gruppen von Juristen zusammen, da sie gewährleistet, dass alle c la e s p ete r s on 231
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