Die Rechtswissenschaft und deren Praktiker konnten auf eigene Faust keine umfassenden Veränderungen des bestehenden Rechts herbeiführen, dazu fehlte ihnen das politische Mandat. Die rechtsbildende Wirkung bestand vielmehr darin, eine Richtung vorzugeben, und dann konnte „dasVolksurtheil ihr nur durch seine äußere Macht den Erfolg verschaffte“.32 Die Unterscheidung in Rechtspolitik und Jura/Rechtsdogmatik, die Stahls Gedankengang kennzeichnet, war ein zentraler Baustein des rechtspositivistischen Credos der historischen Schule.Das Vorrecht über den materiellen Inhalt des Rechts zu entscheiden, oblag allein den Repräsentanten des Volkswillens. Die Rechtswissenschaft formulierte doktrinäre Auffassungen, konstruierte Begriffe und schlug Lösungen für juristische Probleme vor, die dann allerdings für ihre Gültigkeit die Anerkennung von Seiten der politischen Macht erforderte. Die Tatsache, dass die Rechtswissenschaft keine eigene rechtspolitische Autorität innehatte, sondern sich stets in ihre unterordnende Rolle gegenüber der politischen Macht fügen musste, bedeutete nach Stahl nicht, dass sie für den Rechtsbildungsprozess wertlos sei. Das wissenschaftliche Element, das einem offenbar amorphen Rechtsstoff eine Einheit verlieh, war vielmehr eine Voraussetzung für eine gesunde Rechtsbildung. Ohne die systematisierende Kraft der Rechtswissenschaft war die formelle Rechtssicherheit in Gefahr. Das wissenschaftliche Argument fügte also der Rechtsbildung etwas Einmaliges zu, was nicht von den übrigen Rechtsquellen, also Gesetzgebung, Praxis oder Gewohnheitsrecht geleistet werden konnte. Stahl beschreibt die Aufgaben der Rechtswissenschaften, auf für die historische Schule charakteristischeWeise, so: re cht swi s s e n scha f t al s j ur i st i sch e dok t r i n 226 31 Stahl, S. 8-9. 32 Ibidem. ung, die in ihremBereich enstand – die Rechtsphilosophie und Politik,wie sie von solchen, die des bestehenden Rechts kundig waren und nur kraft dieser Rechtskunde gepflegt wurden – sie und nicht das Volk d.i. die Rechtsunkundigen, hat fast durchgängig die Bahn der neuen Entwicklung vorgezeichnet“.31 Die Rechtswissenschaft hat die Aufgabe, das Recht zum vollständigen und systematischen Bewusstsein zu bringen für den Zweck seiner Anwendung, sey es um die Regeln für die Zukunft (Theorie), sey es um die Entscheidung eines vorliegenden Falles zu erhalten (Praxis). Ihre thätigkeit ist es: die Gewohnheiten aufzufinden und in scharfer Gestalt zu begränzen, die
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