Die unausweichliche Konsequenz dieser Festlegung des Objekts der Rechtswissenschaft ist, so Stahl, dass sie keinen Anspruch auf den Status der Wissenschaftlichkeit erheben kann. Es ist nämlich das Wesen derWissenschaft, sein Objekt zu treffen, wie es z.B. in der Mathematik oder in den Naturwissenschaften geschieht.Die Rechtswissenschaft dagegen kann niemals ein ausweichendes Objekt, das natürliche Recht, treffen, das nur in seiner Potentialität bestimmt ist. Es ist eine unmögliche Aufgabe für die Rechtswissenschaft, ein Objekt zu behandeln, das sich in ständigemWandel befindet. Das menschliche Leben kann in seiner Komplexität und Dynamik nicht dargestellt werden. Nur im Nachhinein kann die Rechtswissenschaft festhalten, was in einem bestimmten Augenblick Recht war. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass die Jurisprudenz wertlos ist,weil Rechtswissenschaftler das Recht nicht so abbilden können, wie es eigentlich beschaffen ist. In diesem Punkt scheinen Stahl und Kirchmann einer Meinung zu sein. Allerdings ist Kirchmanns Argumentation, so Stahl, widersprüchlich.Auf der einen Seite ist das natürliche Recht der wahre Gegenstand der Jurisprudenz, auf der anderen Seite stellt Kirchmann jedoch fest, dass die Jurisprudenz an das positive Gesetz gebunden ist, das im Gegensatz zum natürlichen Recht steif ist und sich nicht wie das Leben oder das natürliche Recht dynamisch entwickelt. Darin offenbart sich laut Stahl Kirchmanns Irrtum.Wenn die Rechtswissenschaft an das positive Recht gebunden sei, sollte es selbstverständlich sein, dass dieses auch die Maßstäbe setze und nicht ihr angeblicher Gegenstand, das natürliche Recht. Auch aus wissenstheoretischem Blickwinkel sprach alles dafür, dass das positive Recht der Gegenstand der Rechtswissenschaft wäre und nicht das natürliche Recht.27 Das positive Recht könne von Rechtswissenschaftlern dargestellt werden, weil es in Zeit und Raum abgegrenzt sei (äusserlich und actuell), wohingegen das natürliche Recht aufgrund seines latenten Charakters (potentiell und unbestimmt) wissensmäßig unerreichbar sei.Wenn Stahls Annahmen richtig sind, würde das bedeuteten, dass die Rechtswissenschaft keine andere Aufgabe haben c la e s p ete r s on 223 26 Stahl, F.J., Rechtswissenschaft oder Volksbewußtsein?, Berlin 1848, S. . 27 „Dagegen das imVolke geltende Recht, welches in Wahrheit das Object der Jurisprudenz ist, erreicht sie vollständig, jeder Aenderung darin kann sie nachkommen, und seinen Inhalt stellt sie adäquat dar“, Stahl S. 5. nur potentiell und unbestimmt imVolke ist, statt das, was bereits äusserlich und actuell in bestimmter Gestalt verwirklicht ist“. 26
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