Vor einem solchen Hintergrund erhielt KirchmannsVorstoß fast blasphemische Dimensionen. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Bereits im selben Jahr, in dem KirchmannsVortrag gedruckt wurde (1848), wurden vier Gegenschriften veröffentlicht, in denen die Verfasser mit unterschiedlichen Ausgangspunkten auf die Kritik reagierten.23 Unter den erschienen Gegenschiften war jedoch nur eine, die mit denWorten Stintzig-Landsbergs dazu geeignet war „eine würdige und gründliche Nachweisung der Verkehrtheiten und der Übertreibungen [sc Kirchmanns]“ darzustellen.24 Die Schrift, die die Überschrift Rechtswissenschaft oderVolksbewusstsein? trug, wurde von keinem Geringeren, als dem, neben Savigny, wichtigstenVerfechter der historischen Schule, Fridrich Julius Stahl verfasst.25 Stahls Anliegen war jedoch nicht nur, einen bedrohlichen Angriff auf die Rechtswissenschaft abzuwehren.Vor allem sah er in den Turbulenzen nach Kirchmanns Rede eine Gelegenheit, die Sichtweise der historischen Schule auf den Zusammenhang zwischen Rechtswissenschaft, Rechtsbildung und Rechtsanwendung herauszustellen. Die Gedankengänge, die Stahl in seiner Arbeit mit demTitel Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht (1-2, 1830-33) ausführlich dargelegt hatte, konnten jetzt effektiv in einer zusammenfassenden Form präsentiert werden. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die Kirchmann geweckt hatte, konnte er mit interessierten und neugierigen Lesern rechnen. Stahl leitet seine Kritik an Kirchmanns Argumentation mit einer Analyse darüber ein, was eigentlich als Objekt der Rechtswissenschaft betrachtet werden kann. Nach Stahl gründet sich die Schlussfolgerung, dass die Rechtswissenschaft alsWissenschaft wertlos sei, auf die Annahme, dass das natürliche Recht das Objekt der Rechtswissenschaft ist: re cht swi s s e n scha f t al s j ur i st i sch e dok t r i n 222 23 A. Schönstedt, Die Bedeutung der Jurisprudenz alsWissenschaft, 1848. C. Retslag, Apologie der Jurisprudenz, 1848. [ Adolph A. Rudorff], Kritik der Schrift des Staatsanwalts von Kirchmann über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848. F.J. Stahl, Rechtswissenschaft oder Volksbewußtsein? 1848. 24 Stintzing-Landsberg, ibidem. 25 Siehe Sandström, Marie, Rättvetenskapens princip, Stockholm2004, für eine eingehende Analyse von Stahls Schrift im Lichte der Rechtsinstitutslehre der historischen Schule. Friedrich Julius Stahls Kritik derWert der Rechtswissenschaft alsWissenschaft Er (sc Kirchmann) macht zu ihrem Gegenstande das was nur innerlich und
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