Statt sich seinem wirklichen Objekt, dem natürlichen Recht, zu widmen, ist die Rechtswissenschaft deshalb an das positive Recht gebunden, das sich oft im Konflikt mit dem natürlichen Recht befindet. Im Verhältnis zur Progressivität des natürlichen Rechts, ist das positive Recht statisch und abgeschlossen.Wenn das Recht positives Recht geworden ist, d.h. in Gesetzen verankert worden ist, gehört es bereits zu einer veralteten Rechtslage. Das wahre natürliche Recht hat sich deshalb ganz oder teilweise in sein Gegenteil verkehrt, was sich äußert schädigend auf die Rechtswissenschaft auswirkt: Aufgrund seiner abstrakten Form fehlt es dem positiven Gesetz an Flexibilität und es ist dieser Mangel an Dynamik, der die Existenz von Lücken,Widersprüchen, Zweideutigkeiten und Unklarheiten erklärt. Die Rechtswissenschaft ist gezwungen, auf das Zufällige und dasWidersprüchliche zu fokussieren: re cht swi s s e n scha f t al s j ur i st i sch e dok t r i n 218 10 Kirchmann, S. 17. 11 Kirchmann, S. 22. 12 Kirchmann, S. 16. „In jedem Falle ist die Rechtwissenschaft durch die Beweglichkeit ihres Gegenstandes mit einem ungeheuren Ballast, dem Studium derVergangenheit, beladen.Die Gegenwart ist allein berechtigt.DieVergangenheit ist tot; sie hat nurWert, wenn sie das Mittel ist, die Gegenwart zu verstehen und zu beherrschen. Fordert die Natur eines Gegenstandes diesen Umweg, diese trübe Brille, so muß dieWissenschaft sich wohl fügen, aber ein Glück ist es für sie nicht.“10 „/…/ der Schematismus, die starre Form des positiven Gesetzes dringt in die Rechtswissenschaft; den Reichtum der Individualität muss dieWissenschaft verschmähen, selbst wenn sie ihn erkannt hat. Das positive Gesetz gleicht einem eigensinnigen Schneider, der nur 3 Maasse für all’ seine Kunden hat; die Wissenschaft ist die gutmüthige Meisterin, sie sieht, wo das Kleid drückt, verunstaltet, allein der Respekt vor dem Hausherrn lässt sie nur verstohlen hie und da die Naht ein wenig öffnen, einen Zwickel einschieben“.11 „Hat das natürliche Recht, wie gezeigt, von dem positiven Gesetz schwer zu leiden, so ist doch das Uebel für die Wissenschaft noch größer. Aus einer Priesterin derWahrheit wird sie durch das positive Gesetz zu einer Dienerin des Zufalls, des Irrthums, der Leidenschaft, des Unverstandes. Statt des Ewigen,Absoluten, wird das Zufällige, Mangelhafte ihr Gegenstand. Aus dem Aether des Himmels sinkt sie in den Morast der Erde“.12
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