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Genau wie andereWissenschaften, stellt Kirchmann fest, befasst sich die Rechtswissenschaft mit einem selbstständigen, freien Objekt,das in sich selbst besteht, egal ob sich eineWissenschaft mit ihm befasst, oder nicht. Dieses Objekt ist das Recht, das in derVorstellung desVolkes lebt und deshalb, so Kirchmann, gut als „das natürliche Recht“ bezeichnet werden kann. Die Natur des Rechts besteht darin, so Kirchmann, dass es „von jedem Einzelnen in seinem Kreise verwirklicht wird“. Im menschlichen Zusammenleben entwickelt und verwirklicht sich das Recht auf eine natürliche Art, und eines seiner Wesensmerkmale ist, dass es, bereits bevor es Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung wird, einen Wissensaspekt enthält. DiesesWissen über das Rechts ist jedoch keine Wissenschaft, sondern „es ruht in den dunklen Regionen des Gefühls, des natürlichenTakts, es ist nur einWissen des Rechts in dem einzelnen Falle“. Jeder Mensch kann also mit Hilfe seines Rechtsgefühls entscheiden, was in einem bestimmten Fall Recht ist. Um diese Eigenart des Rechts zu erklären, zieht Kirchmann einen Vergleich zu den Sprachwissenschaften, deren Objekt ebenfalls einen Wissensaspekt beinhaltet. Das Individuum verwendet korrekte Kasusund Tempusformen, ohne mit diesen Begriffen der Grammatik oder der Sprachwissenschaft vertraut zu sein. Diese Analogie erstreckt sich jedoch noch weiter. Ein Volk kann nämlich sehr gut ohne Rechtsoder Sprachwissenschaft leben, jedoch nicht ohne sein Recht oder seine Sprache. Es sei daher die Aufgabe der Rechtswissenschaft ihr Objekt zu verstehen und dessen Gesetzmäßigkeiten zu finden. Das erreichteWissen solle in Begriffe gegossen und nachVerwandtschaft und Zusammenhang in ein System gefasst werden. ImVergleich zu anderen Wissenschaften werde allerdings deutlich, dass die Rechtswissenschaft in den letzten Jahrhunderten keine Fortschritte gemacht habe, ihre Entwicklung stagnierte vielmehr. Die Juristen des 16. Jahrhunderts wie Cujacius, Donellus, Hotomannus und Duarenus, seien deshalb laut Kirchmann, noch immer vorbildlich. Der Gegenwart sei es nicht gelungen etwas Besseres hervor zu bringen. Der Grund für den ruinösen Zustand der Rechtswissenschaft liege in ihrem Objekt, dem natürlichen Recht, welches sich auf Grund seiner schnellen Veränderlichkeit nicht für ein wissenschaftliches Studium eigne: re cht swi s s e n scha f t al s j ur i st i sch e dok t r i n 216 DieWertlosigkeit der Rechtswissenschaft alsWissenschaft

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