regeln – die allgemein sein sollen – sind nämlich nicht immer auf einzelne Fälle anwendbar. Nur in der Theorie kann der Jurist sich auf ein einfaches Subsumtionsmodell der Rechtsanwendung verlassen; in der Praxis haben Juristen eine Reihe verschiedener Techniken entwickelt, um die Dichotomie zwischen Regel und Fall hantieren. Dieses Verhältnis ist also nicht für eine kodifizierte Rechtsordnung einzigartig. Auch das deutsche Recht litt, wie Savigny zugab, an diesem Problem. Der Unterschied war jedoch, dass der Richter in den schwierigen Fällen Zugang zu anderen, komplettierenden, Rechtsquellen hat. Eine abschließende Kodifikation der Art, wie sie von Thibaut befürwortet wurde, bedeutet dahingegen, dass dieser Ausweg versperrt wird. Der Rechtsanwender wird vor eine schwierige Wahl gestellt: Entweder füllt der Richter den Gesetzestext aus oder präzisiert ihn nach eigenem Gutdünken, oder er fällt zurück auf die rechtlicheTradition, die mit Inkrafttreten des Gesetzbuches verworfen worden ist. Die erste Alternative bedeutet ein Gutdünken ohne Seinesgleichen, das ein gewissenhafter Richter niemals akzeptieren würde. Der Richterstand würde, meinte Savigny, eher die zweite Alternative wählen. Damit würde der Gesetzestext mit Rechtsquellen komplettiert, die zwar formell abgeschafft seien, aber dennoch in schwierigen Fällen die entscheidende Rolle spielten. Vor dem Hintergrund von Savignys Kritik an der Kodifikationsidee ist der Widerstand der schwedischen Richter gegen den Zivilgesetzvorschlag völlig begreiflich. Zwar war Ziel des Gesetzgebungsprojektes, die Rechtsanwendung zu fördern, denn “[d]ürfige Doktrin und das damalige geschriebene Recht auf dem Gebiet des Privatrechts gaben weder Gerichten noch der Allgemeinheit Richtlinien auch nur in relativ grundlegenden Fragen.”14 Sinn des Gesetzesvorschlages war es daher, eine vollständige Basis für die Rechtsanwendung der Gerichte und Behörden zu schaffen. Die Ironie in den Bestrebungen des Ged i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 249 14 Marks vonWürtemberg, a. a.,O., S. 199.
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