ermöglichte – ja, sie dazu ermunterte – einzelne Fälle nach persönlichen Sympathien oder Antipathien zu entscheiden. Die Lösung der Vertreter der Kodifkationsidee bedeutete, dass die freie Entscheidungsgewalt des Richters durch eine vorhersehbare und gleichförmige Anwendung eines zeitweilig fixierten Gesetzestextes ersetzt würde. Das setzt jedoch voraus, dass das Gesetzbuch den Richter mit Regeln für alle denkbaren Fälle versieht. Der Gesetzestext muss, kurz gesagt, abschließend sein. Es wäre, nach Savigny, der Gipfel der Naivität zu glauben, dass es überhaupt möglich ist, ein imVerhältnis zur Menge der potentiellen Fälle abschließendes Gesetzbuch zu verfassen. Wie auch immer der Gesetzgeber das Gesetzbuch gestaltet, wäre der Richter, wenn er vor einem schwierigen Fall steht, dennoch gezwungen, sich außerhalb des Gesetzestextes auf die Jagd nach einer Lösung zu begeben. En kasuistisch gestaltetes Gesetzbuch wie das von1734 muss mit Notwendigkeit seine Lücken haben. Empirische Vollständigkeit ist nämlich unmöglich.13 Die Urheber des schwedischen Zivilgesetzvorschlages hatten sich jedoch – vomcode civil inspiriert – für einen eher synthetischen Gesetzgebungsstil entschieden. Ein abstrakter gestalteter Gesetzestext wirkt zwar der Entstehung von Lücken im Gesetz entgegen, führt aber anstatt dessen zu Kollisionen zwischen Regeln, die ihrem Wortlaut nach im gleichen Fall anzuwenden sind. Die unbestimmten Ausdrücke, die für diese Gesetzgebungstechnik typisch sind, müssen daher durch Auslegung präzisiert werden. In beiden Fällen ist es offensichtlich, dass der Gesetzestext alleine nicht für eine gute Rechtsanwendung ausreicht. Gerade in diesen Situationen tritt die Geschichte – die abgeschafften Rechtsquellen – wieder auf die Bühne, wenn auch nur in den Kulissen. Auslegung und Ausfüllung kommen in allen entwickelten Rechtssystemen vor. So bald allgemeine Regeln vor einzelne Fälle gestellt werden, entsteht ein Spannungsverhältnis: Gesetzesma r i e s a n d s t r ö m 248 13 A. a. O., S. 13.
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