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Es ist sicherlich eine banale Wahrheit, zu sagen, dass das Vollständigkeitsideal eine Utopie ist. Die Kodifikation kann nicht alle aufkommenden Fälle decken. Die kasuistische Ausformung setzt eigentlich voraus, dass der Gesetzgeber eine Kristallkugel hat, mit dessen Hilfe er in die Zukunft blicken und voraussehen kann, was eintreffen wird, was an sich ein absurder Gedanke ist. Eine synthetisch verfasste Kodifikation, auf der anderen Seite, muss, wenn sie das Vollständigkeitsideal realisieren soll, so abstrakt formuliert sein, dass sie stattdessen fast inhaltslos wird. Ein illustratives Beispiel für dieses Misslingen ist, gemäß Savigny, der Code civil. Dessen Unvollständigkeit zeigte sich darin, dass nur eine geringe Anzahl von Fällen direkt nach dem Wortlaut des Gesetzestextes entschieden werden konnten. Ein weiteres Beispiel dafür, dass das Vollständigkeitsideal illusorisch war, ist die Tatsache, dass dieser als Folge der gesellschaftlichenVeränderungen ständig einer Revision unterworfen werden muss. Dies bedeutet, dass die Kodifikation inWirklichkeit nur zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an dieVerhältnisse angepasst ist, die sie regeln sollte. Mit der Zeit erscheint die Kodifikation daher vielmehr als ein Flickwerk. In dieser Situation wird der Jurist an andere unbestimmte, subsidiäre Rechtsquellen verwiesen. In Anbetracht dessen, dass es im Zweck der Kodifikation liegt, das Ermessen des Richters in der Rechtsanwendung zu eliminieren, vor allem durch das Aufstellen eines Interpretationsverbotes wenn es um die Anwendung des Gesetzestextes geht, kann der Richter nicht begründen oder motivieren, warum er einen gewissen Schlusssatz gezogen hat, außer durch eineVerweisung auf die Natur der Sache, allgemeines Rechtsbewusstsein oder gesundeVernunft.Wenn die Argumentation nicht offen erläutert werden kann und der Richter gezwungen wird, auf Politik und Moral zu verweisen, wird die Tür für jede Art vonWillkürlichkeit bei der Rechtsanwendung geöffnet. Um die Rechtsprechung aufrechtzuerhalten, wird der Richter gezwungen, auf eigene Faust auszulegen und Recht zu c l a e s p e t e r s o n 222

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