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d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 195 beweist, dass der Gesetzgeber diese Fragen dem Gewohnheitsrecht überlassen wollte. Passivität wird zu aktiver Toleranz. Im19. Jahrhundert wird dieses Argument jedoch meistens genannt, um direkt widerlegt zu werden. Das beständige Abweisen deutet an sich auf die Bedeutung des Argumentes hin. Ein weiterer moderner Einschlag ist eine richter-realistische Sichtweise des Gewohnheitsrechts. Das Material, das Gerichte berücksichtigen,wird bindendes Gewohnheitsrecht.111 Dadurch wird jedoch das Problem zu einem reinen Rechtsanwendungsproblem, welches aus französischer Sichtweise das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle degradiert, da das Präjudiz prinzipiell nicht bindend ist. Laurent erwähnt das Gewohnheitsrecht nur im Zusammenhang mit dessen historischer Rolle für das Entstehen des geschriebenen Rechts. Am Ende des 19. Jahrhunderts passiert ein plötzlicher Umschwung. Baudry-Lacantinière geht davon aus, dass das Gesetz und das Gewohnheitsrecht verschiedene, natürliche Funktionen im Rechtssystem haben. Das Gewohnheitsrecht besitzt eine besondere Kapazität, die wechselnden Bedürfnisse der Gesellschaft aufzunehmen und zu regeln, im besonderen auf dem wirtschaftlichen Gebiet.112 Die Idee, dass die Autorität des Gewohnheitsrechtes von einer stillen Gutheißung des Gesetzgebers abhängig ist, wird völlig abgelehnt. Baudry-Lacantinière stellt vier Kriterien auf, wodurch die Sitte rechtlich bindend werden kann. Diese Kriterien sind wohlbekannt, sogar für die schwedische Rechtswissenschaft.113 Der spätere Kommentator Beudant 111 “Die Gewohnheitsrechtslehre in der … Literatur des frühen 20. Jahrhunderts unterscheidet sich … von Standpunkten der Rezeptionsperiode der historischen Schule. Eine neue, realistische Einstellung kommt darin vor, dass man nun in Beachtung zieht, wer ein eventuelles Gewohnheitsrecht anwenden soll, [d.h.] die Bedeutung der Gerichte für das Aufkommen des Gewohnheitsrechts“, Björne, supra n. 5, s. 110. 112 “Quels que soient la perfection et les développements de la législation écrite, elle reste, par nature, impuissante à saisir à temps toutes les manifestations de la vie ... La consécration de l’autorité de ces règles coutumières n’est-elle pas une garantie de sécurité et de stabilité, puisqu’elles donnent une organisation definie à des rapports sur lesquels la loi n’a pas encore statué, et par conséquent une discipline aux activités qu'ils supposent?”, Baudry-Lacantinière, supra n. 81, s. 21. 113 “La coutume ... doit résulter d’une série de faits multiples et identiques qui en démontrent la constance ... Cette coutume doit ... être prouvée par le renouvellement

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