RS 23

d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 175 Macht gegenüber dem Gesetzgeber. Artikel 5 schützt die Selbständigkeit der gesetzgebenden Macht und dessen Sonderstellung imVerhältnis zur Praxis. In diesen Bestimmungen wird die Idee vom Gesetz als dem einzig zugelassenen rationalen Rechtsgestaltungswerkzeug konkretisiert. Artikel 4 bestimmt, dass der Richter nicht von einem Gerichtsbeschluss absehen kann, mit der Erklärung, dass das Gesetz schweigt, unzureichend oder unklar ist. Der Richter wird dadurch des déni de justice schuldig.48 Der richtenden Macht wird die Verpflichtung zugeteilt, selbständig rechtliche Lücken zu füllen. Die Bestimmung beweist, dass sich dieVerfasser des Code Civil des Problems bewusst waren, dem Gesetz eine Sonderstellung als exklusivem Rechtsgestalter zu geben. Es wurde bereits festgestellt, dass das Zivilrecht von gewissen konstituierenden Eigenschaften geprägt ist, welche eine strikt mechanische Rechtsanwendung unmöglich machen, unabhängig von derVortrefflichkeit des Gesetzgebers.Auf der anderen Seite setzt die Legitimität der Kodifikation eine bestimmte Fähigkeit voraus, in großem Ausmaße ein gesamtes Rechtsgebiet zu decken und das Recht für eine lange Zeit festzuschreiben. Dies hat zur Folge, dass das Risiko für Lücken im Rechtssystem gleich groß wie vorher ist, die Gerichte aber aus Respekt für die neugewonnene Sonderstellung des Gesetzgebers in der Rechtsanwendung gehemmt sind, aus Angst in das Revier des Gesetzgebers einzudringen. Die Gerichte sollen sich nicht ausVerzweiflung gezwungen sehen, die gesetzgebende oder ausübende Macht für eineVorabentscheidung zu kontaktieren. Und wenn die Sonderstellung des Gesetzes fest gesichert ist, sollte der Rechtsanwendung ein gewisses Maß an Selbständigkeit überlassen werden können.Artikel 4ist daher gleichzeitig eine Schutzbestimmung für die Selbständigkeit der richtenden Macht und ein indirektes Geständnis der Unvollständigkeit des Gesetzgebers. Artikel 5 schützt dagegen das Revier des Gesetzgebers. Die 48 Art. 4: “Le juge qui refusera de juger, sous prétexte de silence, de l’osbcurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.”

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