d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 145 Estland von Zwischenkriegszeit nicht unterschätzen.Wenn auch systematisch etwas sonderlich und vom Stil her eigenartig kasuistisch, war das damals gegoltene Baltische Privatrecht immerhin eine privatrechtliche Gesamtkodifikation. Der estnischer Entwurf 1936/40 war ebenfalls ein Beispiel von der selben Genre. Die Antwort auf die Frage, warum es in Estland überhaupt kein Zweifel gegenüber das Kodifikationsbedürfnis zutage gelegt war, ist damit einfach und etwas banal: Man war zu dem kodifizierten Recht gewohnt. In diesem Zusammenhang bleibt also unklar, ob man bei der grundsätzlichen Entscheidung für eine Kodifikation des Privatrechts von dem deutschenVorblid ausgegangen ist oder ganz einfach den eigenen Gewohnheiten befangen blieb. Wie oft bei den eingeübten Gewohnheiten, fragt man nicht danach, ob die auch vernünftig oder rechtzufertigen sind. Ebenso hat man in Estland wohl nicht daran gedacht, dass eine grundsätzliche Entscheidung für ein kodifiziertes Privatrecht vielleicht doch etwas Überlegung und Begründung bedarf. Gerade in der Lage eines völligen Neubeginns und in einer entschiedener Reformstimmung hätte man gute Möglichkeit gehabt, die Erfahrungen der europäischen Staaten mit und ohne kodifizierten Recht zu erwägen. Es wäre auch am Beispiel Deutschlands als pars pro toto für Europa durchaus möglich gewesen.Wie gesagt, das BGB als eine gemeindeutsche Privatrechtskodifikation ist ja erst hundert Jahre alt. Obwohl die Geschichte des geschriebenen Rechts in Estland bis zum ersten Weltkrieg in hohem Masse als eine Geschichte des deutschen Diaspora- oder Partikularrechts zu deuten ist und gedeutet wird, wurden die Erfahrungen der jüngeren oder älteren deutschen Privatrechtsgeschichte im Zuge der estnischen Privatrechtsreform nicht diskutiert. Ebenso diskussionslos ist in Estland die Entscheidung für das in erster Linie der deutschen Pandektistik bzw. dem BGB charakteristischen Fünf-Bücher-System mit einem allgemeinenTeil gekommen. Zunächst bringt schon der Titel des estnischen Gesetzes des allgemeinenTeils des Zivilgesetzbuches vom1994 zum
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