d i e k o d i f i k at i o n u n d d i e j u r i s t e n 137 Im Jahr 1920, wenn man durch das Gesetz über die Abschaffung der Stände9 in Estland die Geltung des Baltischen Privatrechts fast für die ganze Bevölkerung ausgedehnt hatte,10 hat man die darin kodifizierten ständischen Unterschiede und Besonderheiten durch eine Pauschalentscheidung für ungültig erklärt.11 Dass viele bisdahin als ständisch begriffene Unterschiede in den privatrechtlichen Institutionen weiterhin durch das Territorialprinzip in Geltung geblieben waren und damit den Durchbruch einer modernen einheitlichen Privatrechtsordnung in Estland vor dem II.Weltkrieg in hohem Masse gehindert haben, liegt an einem anderen Blatt. Hier ist von Bedeutung, dass das Baltische Privatrecht in der Republik Estland zwar auf eine andereWeise gelten sollte als früher in den baltischen Ostseeprovinzen des Zarenreichs, die Unterschiede aber durch das Territorialprinzip durchaus nach den mittelalterlichen Grenzen der Rechtskreise in Kraft blieben. Das Stadtrecht hat immer noch das Landrecht gebrochen, dies auch auf den Gebieten der ehemaligen Patrimonialgüter der Städte auf dem flachen Land. Wie sah die Anwendung des komplizierten kasuistischen Regelwerkes in der Praxis der Gerichte in der Zwischenkriegszeit 9 Seisuste kaotamise seadus [Gesetz über die Abschaffung der Stände]. - Riigi Teataja 1920, 129/130, 254. 10 Bis dahin galt das Baltische Privatrecht eigentlich nur für die zahlenmässige Minderheit der Bevölkerung, d. h. für Adlige, Stadtbürger, evangelische Geistliche und andere seit jehe freie Leute von Ostseeprovinzen. Die privatrechtlichenVerhältnisse der Mehrheit der Bevölkerung, des estnischen und lettischen Bauernstandes wurde durch die sog. Agrargsetzgebung bzw. Bauernrechte geregelt, die im Zug der etappenweise durchgeführten Bauernbefreiung zustande gekommen war. 1920 wurden die Bauernrechte ausser Kraft gesetzt. Die Ausdehnung des Baltischen Privatrechts für die ganze Bevölkerung Estlands wurde aber immerhin nicht flächendeckend durchgeführt. Vgl. dazu P. II. in dem Gesetz über die Abschaffung der Stände: “[...] Das III. Teil des Gesetzbuches der Ostseegouvernements bleibt zum einzigen privatrechtlichen Gesetz: in den Städten und Stadtteilen, wo bisher das Landrecht in Geltung war, und für die Bevölkerung auf dem flachen Lande – gelten landrechtlichen Rechtssätze; für die Bevölkerung der Städte – gelten stadtrechtlichen Rechtssätze; in den ehemaligen Gebieten der Petersburgischen und Pleskauischen Gouvernements gilt Bd. X Abth. I der Gesetzessammlung des Russischen Reichs”. 11 Ibidem: “Mit dem vorliegenden Gesetz verlieren in der Republik Estland ihre Geltung alle Gesetze und Erlasse, die die ständischen Rechte,Vorrechte, Pflichten und Rechtsbeschränkungen oder überhaupt ständische Besonderheiten beinhalten.”
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