Michael Stolleis 172 des Privatrechts schien erreichbar. In den siebziger Jahren sah man am Honzont sogar die Vision einer gemeinsamen europaischenJuristenausbildung. Nicht alle dieser Bliitentraume sind gereift. Teils fehlten die Kräfte, teils haben sich unter den kritischen Blicken der nächsten Generation die Gewichte verschoben. IRMAE wurde nicht abgeschlossen. Das von Going imtiierte Handbuch, inzwischen neun monumentale Bände, ist nicht ganz fertig geworden, und man muB zugeben, dafi es in sich inhomogen ist und Mängel aufweist'-'’. Helmut Goings zweibändiges „Europäisches Privatrecht“ (1985, 1989) ist eine eindrucksvolle Synthese, aber auch nicht eine in den sozialen und historischen Kontext eingebettete Beschreibung der Wechselwirkungen von realer Situation und wissenschaftlichemDenken - also nicht von der Art, wie man sich eine moderne Dogmengeschichte vorstellen könnte'^. Und weiter: Grofie Eelder der Rechtsgeschichte sind weiterhin test im nationalen Kontext verankert. Europäisch vergleichende Arbeiten zum Dorfrecht, zum Recht des Bodens, zum Lehensrecht, zur Rechtsgeschichte der europäischen Städte, zur Verwissenschaftlichung der Rechtskultur und zur Justiz sind immer noch recht selten. Erst jetzt (1997) hat Antonio Padoa Schioppa mit „LegisIation and Justice“ (The European Science Foundation) einen vergleichenden Band fur Gesetzgebung und Justiz in Europa vorgelegt. Besondere Beachtung verdienen drei Gebiete: Die Geschichte des „Abweichenden Verhaltens“ (Kriminalitätsgeschichte bzw. Geschichte des Strafrechts), die Geschichte des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts. Ich will sie kurz kommentieren: In den letzten Jahren kann man beobachten, daB in vielen Ländern Europas die Initiative zur Erforschung von Verbrechen und Strafe in die Hände der Sozialgeschichte, der historischen Anthropologie und der Mentalitätsgeschichte iibergegangen ist. Es sind die Historiker, nicht die in denJuristischen Fakultäten sitzenden Rechtshistoriker, die sich umStatistiken der Kriminalität, umGeschichte der Strafen, der Zuchthäuser und Gefängnisse gekiimmert haben. In Finnland ist es z.B. Heikki Ylikangas, in Schweden Eva Österberg, in England Richard Evans, in Deutschland sind es Richard van Dulmen und eine Gruppe jiingerer Historiker in einemArbeitskreis „Historische Kriminologie“In Frankreich sind es die Söhne und Enkel der Griindergeneration der „Annales“, also Lucien Febvre und Marc Bloch, sowie natiirlich Michel Foucault’s „Surveiller et punir. La naissance de la prison" (1975), ein anregendes (suggestives), aber historisch problematisches Buch. Uberall — so scheint es - haben die Historiker das Feld der zuriickweichenden RechtshiD. J. Osier, Jurisprudentia Elegantior and the Dutch Elegant School, in; lus Commune 23 (1996) 39-354 (351-354); ders. Turning the title-page, in: Rechtshistorisches Journal 6 (1987) 173182. M. Stolleis, Europäisches Privatrecht, in; Rechtshistorisches Journal 9 (1990) 81-92. '' K. Harter, Bettler - Vaganten - Deviante. Ausgewahlte Neuerscheinungen zu Armut, Randgruppen und Kriminalität im truhneuzeitlichen Europa, in; lus Commune 23 (1996) 281-321; H. P. Glockner, Quellen zur neueren Strafrechtsgeschichte, m: lus Commune 24 (1997) 249-271.
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