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Reiner Schulze 208 (2) Die Abkehr von der Illusion des Objektivismus, der »reinen (Rechts-) Geschichte“ kann freilich nicht schrankenlose Hingabe zum Subjektivismus bedeuten. Denn wollte man (Rechts-)Geschichte radikal subjektivistisch als blobes beliebiges Konstrukt der Gegenwart begreifen, wiirde man historischer Forschung letztlich jeden eigenen Erkenntniswert absprechen. Geschichte wtirde sich auf eine imImperfekt ausgedriickte Darstellung von Gegenwart reduzieren. Wie jeder Historiker wird sich der Rechtshistoriker mit keinem der beiden Extreme begniigen können: weder mit der Geniigsamkeit der Versenkung in die „reine Geschichte“ noch mit der Bequemlichkeit, aufgrund der Problematik historischer Erkenntnis historische Aussagen ganz in das Belieben aktueller Bediirfnisse zu stellen. Er wird vielmehr - im Bewulksein der Singularität jeder historischen Epoche, jedes Ablaufs, jedes Ereignisses und damit der Verschiedenheit vergangener und gegenwartiger Rechtszustände - in der Spannung zwischen Gegenwartsbedingtheiten seiner Forschung einerseits und gleichzeitigem Bemiihen um das Verständnis eines fruheren (und damit anderen) Rechtszustandes verbleiben miissen'^ - im Bewulksein also beispielsweise, daft das altere ius commune ihn interessiert, well heute wieder gemeinsames Recht in Europa in Frage steht und das ältere vielleicht ftir das kunftige ius commune Anregung, Ansporn oder Aufschliisse geben kann and zugleich imBewulksein, dab das ältere und das heutige gemeinsame Recht in Europa etwas Verschiedenes sind*^, dab älteres ius commune, Usus modernus, Pandektenwissenschaft spezifische historische, d.h. vergangene und unwiederbringliche Erscheinungen sind und nicht normative Vorgaben oder Muster fiir heutiges und kiinftiges Recht. (3) In diesemSpannungsfeld, in dem sich rechtshistorische Forschung bewxgen mub, sind Begriffsbildungen wie „Europaisches Privatrecht" und „Europäische Rechtsgeschichte" als Instrumente zur Vermittlung zwischen Vorstellungen und Fragen unserer Zeit einerseits und den Denkweisen fruherer Zeit andererseits legitim und unentbehrlich, obwohl es sich nicht um Quellenbegrille handelt. Die Begriffsbildung geht vielmehr von der Gegenwart aus - sie korrespondiert mit demerwähnten „europäischen“ Denken seit den fiinfziger Jahren und erklärt sich aus dem Gegensatz zu den zuvor herrschenden Ronzepten des „deutschen“ (bzw. jeweiligen nationalen) Privatrechts und der nationalen Rechtsgeschichte. „Europäische“ Rechtsgeschichte will so als historiographische Kategorie die Aufmerksamkeit auf Rechtsentwicklungen und -erscheinungen lenken, die weite Teile Europas und die Aufteilung in Nationen iiberspannt haben (das ältere ius commune, die Gewohnheiten der Kaufleute, Vgl. Gerhard Dilcher, Vom Beitrag der Rechtsgeschichte zu einer zeitgemalien Zivilrechtswissenschaft, aaO. Fn. 7, S. 268, 283 f.; Otto Gerhard Oexle, Die Geschichtswissenschaft imZeichen des Flistorismus, HZ Bd. 238 (1984), S. 17 ft. Vgl. hierzu jiingst Paolo Grossi, Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno, Bd. 23 (1994), S. 1 ft.

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