VOM BEITRAG DER RECHTSGESCHICHTE verfestigten Ubcrzeugungcn dcr vorhergehenden Zeit war, erscheint vielleicht heute seinerscits als verfestigte Vorstellung, die in einer neuen wissenschaftsgeschichtlichen Lage nicht dogmatisiert, sondern relativiert werden miilke. Imfolgenden sollen 14 Thesen anregen, diese Frage zu iiberdenken. Ohne daB ciner der dabci beriihrten Gesichtspunkte auch nur annähernd erschöpfend behandelt werden könnte, richten sich diese Thesen darauf, da(^ die Forschungen mehrerer Teildisziplinen der Rechtswissenschaft, darunter auch der Rechtsgeschichte, often bleiben (oder often werden) fiir die Herausforderungen, die sich der Rechtswissenschaft unter der Frage der Rechtsannäherung in Europa stellen. Beabsichtigt ist nicht ein Plädoyer fur das Erkenntnisziel und die Art rechtsgeschichtlicher Forschung, sondern fiir eine Vielfalt der Arbeitsrichtungen, zu der neben mannigfachen Formen bewufker Distanzierung von den Gegenwartsaufgaben der Rechtswissenschaft auch unterschiedliche Formen eines Bezuges auf eben diese Gegenwartsaufgaben gehören können. 207 II. Objektivismus und Subjektivismus in der rechtshistorischen Forschung (1) Keine historische Forschung - weder rechtshistorische noch sozialhistorische noch „allgemeinhistorische“ - kann sich aus der Bedingtheit ihrer Fragestellungen und Erkenntnisse durch Gegenwartsprobleme lösen. In den Geschichtswissenschaften wird heute kaum noch ernsthaft behauptet, dal5 historische Erkenntnis „rein objektiv“ unabhängig von der Lebenssituation des forschenden Subjekts sein könne. Insofern gibt es fiir den Rechtshistoriker — wie fur jeden Geschichtsforscher - keine „reine“ (Rechts-)Geschichte. Schon die Auswahl des Themas „Europaische Rechtsgeschichte", die Bezeichnung des Gegenstandes mit diesem Begriff, die Frage nach historischen Gemeinsamkeiten des Rechts in Europa, das Ziel der Erkenntnis derartiger verbindender Elemente in der Geschichte - all dies ist vtmden Entwicklungen und Fragen des Rechts in der Gegenwart bestimmt (und trat nicht zufällig seit den 50er Jahren unseres Jahrhunderts zugleich mit dem Entstehen der Europaischen Gemeinschaften und des neuen gemeinsamen Rechts dieser Gemeinschaften hervor). Statt dcr „Flucht in die Vergangenheit", der - stets nur scheinbar gegenwartsenthobenen - „Versenkung in die Quellen", mufi der Rechtshistoriker vielmehr die Beschäftigung mit der Vergangenheit auch als eine Formder Bewaltigungvon Gegenwart, der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Zeit anerkennen. Statt die Voraussetzungen und Erkenntnisinteressen der historischen Arbeit in der Gegenwart zu leugnen, mufi er sie reflektiercn und in ihremBewulksein Vergangenes fur die Gegenwart begreifen. Forschungen zur Europaischen Rechtsgeschichte sind insofern immer auch Ausdruck von und Auseinandersetzung mit einer Vorstellung fiber das heutige Recht in Europa.
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