Paolo Cappellini 2 Die Frage stellt sich, in Kiirze ausgedriickt, unter zwei Profilen, die uns jedoch nur schwerlich von einander trennbar scheinen, eines von breiterer Tragweite, welcher die vexata quaestio der Geburt des modernen Individuums {versus Individualismus) betrifft, das andere, etwas spezifischer, das nicht so sehr dazu dient von alien Positionserklärungen der Doktrin und der internationalen Praxis Rechenschaft abzulegen, sondern vielmehr dazu, von den Grundintentionen die dieser, explizit oder viel häufiger unbewuEt (im Sinne eben jenes Etat-inconscient von demeine gewisse Ethnologie spricht) unterstellt sind, und dadurch auch die verfeinerten Entscheidungen auf der Ebene der dogmatisch-juristischen Definitionen determinieren. II. Vor allem anderen - und in aller Kiirze- der sogenannte ,moderne‘ Individualismus. Dieser Begriff - und man ist gezwungen bier in apodiktischer Weise vorzugehen und eine analytische Untersuchung an eine andere, angebrachtere Stelle zu verweisen - ist in der Tat eng mit der Interpretation der Zeitlichkeit verbunden (welche ihrerseits, wie uns die Anthropologie erinnert, eine Interpretation des einfachen zeitlichen Ablaufes ist), die uns eigen ist, oder mit der Versuchung/Berufung von uns Modernen, die verlaufende Zeit so wahrzunehmen, als wiirde sie tatsächlich das Vergangene hinter sich auslöschen, als ob der Zeitfluss nicht ruckgängig zu machen sei (im Sinne von unaufhörlich vorwärtsschreitend); eine solche Fortschrittstheorie, wie so treffend Ch. Péguy bemerkt hat, endet damit „in der Substanz eine Theorie der Sparkasse zu sein. Mit dem Einverständnis aller bildet sie eine gigantische Universalsparkasse, eine Sparkasse die der ganzen Menschheit gemein ist, eine grol^e intellektuelle Sparkasse, allgemein und universell, automatisch fiir alle menschlichen Gemeinschaften. Automatisch im Sinne einer Menschheit, die dort ständig einzahlt, aber niemals etwas abhebt. Und die Quoten rechnen sich pausenlos aufeinander auf. Das ist die Theorie des Fortschritts. Und das ist ihr Schema. Eine Leiter, um weiter nach oben zu kommen“. So fiihlt man sich nicht nur durch eine gewisse Anzahl von Jahrhunderten vomMittelalter entfernt, sondern auch durch viele kopernikanische Revolutionen davon getrennt, von epistemologischen Unterbrechungen, die derart tief verwurzelt sind, dafi nichts mehr von dieser Vergangenheit iiberleben oder wieder auftauchen ,darf‘ (B. Latour): mit einem Wort, die Essenz der Modernität ,mu{5‘ diese als die Epoche der Reduktion des Seins auf das novumdarstellen. Nun haben jiingere (und auch einige weniger junge oder ,moderne‘, aber dennoch des Bemerkens wiirdige) Untersuchungen iiberzeugend dargestellt, daB die ,Entdeckung‘ des sogenannten ,modernen' Individuellen, in die Zeitspanne zwischen den Jahren 1050 und 1200 (G. Morris) gelegt werden kann, daB die Geburt des Individuums - in der wiederentdeckten ,epischen‘ Tradition der ,barbarischen‘ Völker, besonders der skandinavischen, aber auch in der augustinischen Linie der ,Konfessionen', sowie in den auch stets religiösen Apologien-Autobiographien
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