Theorie und praxis 109 zeigen, (a) dal^ der moderne Gesetzgcber die historischen Zustände gar nicht beseitigen kann, oder (b) dal^ er es jedenfalls nicht darf! Geschiitzt wird durch das historischc Argument also das alte Recht des Adels, der Stände, der Kirche — ingesamt also den Rechtszustand des Ancien Regime. Besonders pointiert einander gegeniibergestellt werden rational-verntinftiges Denken einerseits und historisches Denken andererseits bei dem Musterliberalen Karl von Rotteck [1775-1840]. Er argumentiert als Kantianer und als Anhänger der Ideale der Französischen Revolution. In seinem „Vernunftrecht“ plädiert er fur die Beseitigung der alten historisch gewachsenen Zustände. Beispielhaft ist hier seine Antrittsvorlesung in Freiburg, die den Titel trägt „Uber den Streit naturlicher Rechtsprinzipien oder idealer Politik mit historisch begriindetcn Verhältnissen“ (1798). Ebenso deutlich ist sein Artikel „Historisches Recht“ in demberuhmten, von ihm und Karl von Welcker herausgegebenen „Staats-Lexikon“ (1834-1848). Fur Rotteck ist das Fiistorische sofort verdächtig. Die Konservativen verteidigen ihre Position „historisch“, sie sind gegen die „Vernunft“. Der Fortschritt ist deshalb fur ihn der Kampf gegen das „Historische“. Auf der anderen Seite stehen die Romantiker, die Vertreter der historischen Rechtsschule, der gegen die Reformen „historisch“ argunientierende Adel, die katholischen Intellektuellen, die die Säkularisierung des Kirchenguts als rationalistischen Eingriff gegen einen „historischen“ Besitzstand ansehen. Bei ihnen gibt es zwei Richtungen. Die einen opponieren unter Berufung auf das historische Recht und fordern die „Ruckkehr“^‘^, die Unterdriickung der Revolution, eben die Restauration. Die anderen wollen die fortschrittlichen Elemente und das historisch Gewachsene zu einer mittleren Linie verbinden. Das ist etwa der Ståndpunkt der Mittelgruppe des deutschen Liberalismus und der Rechtswissenschaft. Die Parole lautete dort: organische Fortentwicklung auf historischer Grundlage, Bewahren einerseits, Fortentwickeln andererseits. Ein gutes Beispiel hierfur sind die historischen Bezugnahmen auf friihere Epochen: (a) Die Selbstverwaltung der Städte wurde in der Reformzeit (Preul^en: 1806 ff.) vor allem damit begriindet, dal^ man damit zu einem Zustand „zuruckkehre“, also zu demgoldencn Zcitaltcr der städtischen Freiheit des Mittelalters und der Reformation. Welcker plädierte z.B. fur die ständische Freiheit und betonte die Autonomie und die genossenschaftliche Demokratie der mittelalterlichen Städte.Viele Rathäuser des 19. Jahrhunderts, imStil der Neo-Renaissance gebaut, erinnern noch heute an diesem Phänonien. Und auf der Grundlage dieses Gedankens, als Beispiel neuer politischer Gedanken, sprach sich beispielsweise So z.B. Karl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissensehaften ... 1814. C. T. Welcker, Städte, städtische Verfassung. In: Staats-Lexikon, Bd. 15, (1843), S. 104 If.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjYyNDk=