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Peter Landau häufig von fiihrendenJuristen thematisiert wird. Gustav Rurnelin, Kanzler der Universität Tubingen und einer der Vorläufer der Interessenjurisprudenz Philipp Hecks, hielt 1871 in Tubingen eine Rede, in der er das Rechtsgefuhl neben dem Gewissen als zweite Gestalt eines „sittlichen Ordnungstriebs“ der Menschen bestimmte.^' Das Rechtsgefuhl sei urpriinglich die Quelle aller Rechtsbildungen der Menschheit gewesen und könne daher eine „ideale, kritische Forderungen stellende Gerechtigkeit“ begriinden.^"* Es habe aber gegeniiber dem durch das Gesetz begriindeten positiven Recht keine derogatorische Kraft und solle nicht das richterliche Urteil bestimmen. Frauen, die sich mehr als Manner durch ihr Rechtsgefiihl lenken liefien, seien deswegen generell zumRichteramt ungeeignet.'’^ 1st fiir Rumelin das Rechtsgefuhl als kritische Instanz gegeniiber der positiven Rechtsordnung mit der menschlichen Natur gegeben, so wird diese „nativistische“ Ansicht von Jhering in seinem beriihmten Vortrag von 1884 „Uber die Entstehung des Rechtsgefuhls“ entschieden bekämpft.'’^ Fiir Jhering ist das Rechtsgefuhl ein historisches Produkt, das sich im Zusammenhang einer zeitgenössischen Rechtsordnung und Moral ausbildet, aber doch iiber diese binauszuweisen vermag, indem der Mensch aufgrund seines Abstraktionsvermögens neue sittliche Grundsätze finden und das Recht bilden könne, genauso wie er technische Erfindungen (Dampfmaschinen, Telegraph) machen konnte.'*' Bei Rumelin war der Widerspruch zwischen positivem Recht und Rechtsgefuhl unaufgelöst geblieben, so daft der Tiibinger Universitätskanzler nur von einer doppelten Gerechtigkeit sprechen konnte. Demgegenuber vermittelte Jhering das Postulat materieller Gerechtigkeit und den Geltungsanspruch des positiven Rechts durch die Theorie einer sittlichen Evolution der Menschheit.In dieser 84 Gustav Rumelin, Uber das Rechtsgefuhl, Rede vom 6.11.1871 — ND bei Gustav Rumelin, Rechtsgefuhl und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1948 (=Deutsches Rechtsdenken, H. 9, hrsg. von Erik Wolf), S. 10 f. ZumBegriff des Rechtsgefuhls vgl. die eingehenden Analvsen bei Erwin Riezler. Das Rechtsgefuhl. Rechtspsychologische Betrachtungen, 2. Aufl., Miinchen 1946, bei dem allerdings trotz Elinweisen auf viele Autoren seit Aristoteles die Begriffsgeschichte spcziell im 19. Jahrhundert nicht erfabt wird. Gustav Rumelin, Uber die Idee der Gerechtigkeit, Rede vom 6.11.1880, ND ebenfalls bei Rumelin, Rechtsgefuhl und Gerechtigkeit (wie Anm. 53), hier S. 39. Gustav Rumelin, Gerechtigkeit (wie Anm. 54), S. 38. Rudolf V. Jhering, Uber die Entstehung des Rechtsgefuhls, Vortrag vom 12.3.1884, neuediert mit Interpretation von Okko Behrends, Napoli 1986 ( =Antiqua no. 29). Zu Jhenngs Bestimmung des Rechtsgefuhls als eines blol?en Sekundärphänomens auf dem Boden einer wohlausgebildeten Rechtsordnung, das eine Garantiefunktion fiir das Recht ausiibe, cf. die sehr förderlichen Analysen bei Wolfgang Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werk Jherings, Ebelsbach 1982 (=Abh. z. rechtsw. Grundlagenforschung, Bd. 51), S. 211-218, besonders S. 212. Jhering, Entstehung des Rechtsgefuhls (wie Anm. 56), S. 27. Jhering, Entstehung des Rechtsgefuhls (wie Anm. 56), S. 54, schlieist mit dem Satz: „Der Fortschritt unseres Sittlichen, das ist die Quintessenz der ganzen sittlichen Idee, das ist Gott in der Geschichte.“ ZuJherings Verständnis von Evolution des Rechts vgl. auch Jean Gaudemet, Organicisme et evolution dans I’histoire du droit chez Jhering", in: Jherings Erbe, Göttingen 1968

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