Die rechtsquellenlehre in der deutschen rechtswissenschaet ... Die Umgestaltung der Rechtsquellenlehre war ein Produkt des Machtdenkens im Bismarckreich, spiegelte aber zugleich das besonders im Kulturkampf und der sozialen Frage sichtbar werdende Fehlen eines gesellschaftlichen Konsenses wieder. Wurden wesentliche gesellschaftliche Kräfte wie der politische Katholizismus und die Sozialdemokratie als „Reichsfeinde“ diffamiert, so konnte Recht nicht durch gemeinsame Rechtsiiberzeugung geschaffen werden. Auf die Dauer, insbesondere nach 1878, muBten die gesellschaftlichen Konflikte auch die relative Homogenität des Rechtsbewulkseins des Juristenstandes erfassen, der nun nicht mehr wie selbstverständlich auf eine gemeinsame rechtsethische Grundlage zuriickgreifen konnte, die sich ftir die pandektische Rechtsdogmatik in der grundlegenden Rechtsfigur des subjektiven Rechts am deutlichsten ausgeprägt hatte. Nunmehr wird 1878 von August Thon in seiner imGrundansatz sehr rasch rezipierten Schrift „Rechtsnormund subjektives Recht“ die seitdem in Deutschland geläufige Imperativentheorie ftir den Begriff des Rechts vertreten; „Das gesammte Recht einer Gemeinschaft ist nichts als ein Complex von Imperativen“.^' Mit diesemSatz war der Rechtsquellenlehre der historischen Schule die Grundlage entzogen. Im Grunde verlor Savignys „geschichtliche Rechtswissenschaft“ ihre autonome Stellung gegeniiber den Imperativen des Gesetzgebers und der Gerichte; die Wissenschaft gab also ihren Gestaltungsanspruch auf. Eine theoretische Grundlage ftir ein gesetzespositivistisches Subsumtionsmodell gab es in der deutschen Rechtswissenschaft erst seit 1878, dem eigentlichen Entstehungsjahr des modernen Interventionsstaats in Deutschland.^’ Akzeptierte man die Bestimmung des Rechts als eines Komplexes machtgestiitzter Imperative, so konnte der Jurist eine Autonomie gegeniiber diesen Imperativen nur durch eine subjektiv begriindete iiberpositive Rechtsgewifiheit erlangen, da die gemeinsame Rechtsiiberzeugung Puchtas nicht mehr als glaubwiirdig galt. Zu einer solchen Instanz wird nun das Rechtsgefuhl, das seit 1871 auffallend 83 selbeziehung, Frciburg/Tubingen 1883, besonders S. 56: es gebe kein Recht ohne einen Rechtsbefehl der Staatsgewalt. Schultze betont, da(? dieser Satz auch fiir das gelte, „was wir Gewohnheitsreellt nennen “ (S. 57). Schultzes Werk ist ein gutes Beispiel dafur, wie sehr die Rechtsgeschicbte i: 19. Jahrbundert durch „zeitgebundene Leitbilder“ (Böckenförde) beeinflulk wurde; vgl. E'rnstWoltgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jh., Berlin 1961 (=Schriften zur Verfassungsgeschichte Bd. 1). Da Schultzes Modelie auch in der gegenwärtigen Forschung zum Recht der fränkischen Zeit einflullreich sind, sei auf das geistesgeschichtliche Umfeld semes Buchs hingewiesen. im August Thon, Rechtsnorm und suhiektives Recht. Untersuchungen zur allgemeincn Rechtslehre, Weimar 1878 (ND 1964), S. 8. Thon verstand seine Imperativentheorie allerdings nicht in dem Sinne, dah der Staat der einzige Schöpfer des Rechts sei, sondern qualifizierte jede als bindend anerkannte Normeiner menschlichen Gemein.schaft als Rechtsnorm, ausdriicklich auch das Recht eines staatlich verbotenen Vereins, vgl. sein Vorwort S. X. Hierzu vgl. Michael Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, ZNR 11 (1989), S. 129-147.
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